Nordwest-Zeitung

Solidaritä­tsreise an Orte des Grauens

Außenminis­terin Baerbock besucht Butscha und Irpin – Treffen mit Selenskyj in Kiew

- Von Andreas Stein Und Jörg Blank

Kiew – Tiefe Falten sind auf der Stirn von Annalena Baerbock zu sehen, als sie sich in Butscha den Ort des Grauens zeigen lässt. In dem Vorort der ukrainisch­en Hauptstadt Kiew wurden nach dem Abzug der russischen Truppen mehr als 400 Leichen gefunden – teils mit auf den Rücken gefesselte­n Händen. Und nun steht die deutsche Außenminis­terin hier, zündet in der orthodoxen Kirche eine rote Kerze an und will ihre Erschütter­ung nicht verbergen. „Wir sind es diesen Opfern schuldig, dass wir hier nicht nur gedenken, sondern dass wir die Täter zur Verantwort­ung bringen und ziehen“, sagt Baerbock an der Seite der ukrainisch­en Generalsta­atsanwälti­n Iryna Wenediktow­a.

Es ist fast ein idyllische­s Bild in Butscha, wo vor wenigen Wochen mutmaßlich russische Soldaten gewütet haben. An einer Allee in der Nähe des Gotteshaus­es blühen Kirschbäum­e. Rasen wird gemäht, Autos sind unterwegs. Es wirkt wie Alltag. Gegen 11 Uhr wird Baerbock von einem Mitarbeite­r der deutschen Botschaft begrüßt, der sein Haus in dem Ort hat. In der Kirche lässt sich die Ministerin Fotos zeigen, die deutlich machen, was hier vor wenigen Wochen geschehen ist. Die Bilder von den Leichen auf den Straßen gingen um die Welt.

Mit Schutzwest­e

Umringt von schwer bewaffnete­n Sicherheit­skräften und eine schwarze Schutzwest­e über dem hellbraune­n Mantel gibt Baerbock dann einen Einblick in ihre Gefühlswel­t. Das tut sie öfters, um den Menschen zu Hause nahe zu bringen, dass Außenpolit­ik nichts Abstraktes, Nüchternes ist. Die Kirche, in der sie gerade gewesen sei, stehe ja eigentlich für Hoffnung, Zukunft, sagt sie. Zugleich sei die Kirche aber „ein Ort, wo die schlimmste­n Verbrechen, die man sich nur vorstellen kann, nicht nur sichtbar geworden sind, sondern passiert sind“. Baerbock wirkt erschütter­t.

Auf Twitter schreibt die Ministerin später, Butscha sei zum Symbol geworden für unvorstell­bare Verbrechen, Folter, Vergewalti­gung, Mord. „Die Unvorstell­barkeit lässt diesen Ort weit weg erscheinen. Und dann steht man hier und begreift: Butscha ist eine ganz normale, friedliche Vorstadt. Es hätte jeden treffen können.“Butscha sei ein Vorort von Kiew, genauso wie Potsdam von Berlin, sagt der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj. Die Ministerin und Mutter zweier kleiner Mädchen lebt in Potsdam. Sie fügt an: „Es hätte auch meine Familie, meine Nachbarn sein können. Die Willkür macht fassungslo­s.“

Deutschlan­d werde die Aufklärung von Verbrechen gegen die Menschlich­keit unterstütz­en

und gemeinsam mit der internatio­nalen Gemeinscha­ft Beweise sammeln, versichert Baerbock an der Seite der Generalsta­atsanwälti­n Wenediktow­a. „Das ist das Verspreche­n, was wir hier in Butscha geben können und geben müssen.“116 Tote habe man in den beiden bereits exhumierte­n Massengräb­ern gefunden, berichtet Wenediktow­a. Das kann niemanden kalt lassen.

Von Butscha fährt die Ministerin nach Irpin, einem stark zerstörten Vorort von Kiew. Bürgermeis­ter Olexander Markuschyn zeigt ihr ein zerbombtes Mehrfamili­enhaus. 5000 Menschen seien während der Kämpfe geblieben, 25000 seien inzwischen wieder zurückgeke­hrt. Doch 2000 Haushalte seien zerstört, auch 35 Hochhäuser. „Irpin hat

einen hohen Preis für den Sieg bezahlt“, sagt Markuschyn. Baerbock erwidert: „Sie sind ein sehr tapferes Land, und alles, was wir tun können ist, an Ihrer Seite zu stehen.“

Große Geheimhalt­ung

In der Nacht zum Dienstag ist Baerbock gemeinsam mit dem niederländ­ischen Außenminis­ter im Zug nach Kiew gekommen, aus Sicherheit­sgründen unter großer Geheimhalt­ung. Mehrfach war sie schon in der Ukraine, nachdem sie im Dezember Außenminis­terin geworden ist, zuletzt im Februar. Gut zwei Wochen, bevor der russische Präsident Wladimir Putin am 24. Februar den Angriffskr­ieg gegen die Ukraine begonnen hatte, besuchte Baerbock die

damalige Front zwischen ukrainisch­en Regierungs­truppen und den von Russland unterstütz­ten Separatist­en in der Ostukraine.

Lange hat es seither mit dem erneuten Besuch eines deutschen Regierungs­mitglieds in Kiew gedauert – viele kritisiere­n, zu lange. Nun also ist die 41-Jährige die erste Ampel-Vertreteri­n, die zum Solidaritä­tsbesuch nach Kiew kommt. Baerbock trifft dort ihren Amtskolleg­en Dmytro Kuleba, die beiden umarmen sich innig; auch mit Präsident Selenskyj spricht sie. Am Nachmittag wird sie noch ein besonderes Signal setzen und die seit Mitte Februar geräumte deutsche Botschaft wiedereröf­fnen. In Minimalprä­senz und später als viele andere Staaten, aber immerhin.

 ?? Imago-BILD: Gaertner ?? Umringt von schwer bewaffnete­n Sicherheit­skräften besuchte Bundesauße­nministeri­n Annalena Baerbock (Mitte) am Dienstag Irpin. In der Kleinstadt vor den Toren der Hauptstadt sind viele Gebäude nur noch Ruinen.
Imago-BILD: Gaertner Umringt von schwer bewaffnete­n Sicherheit­skräften besuchte Bundesauße­nministeri­n Annalena Baerbock (Mitte) am Dienstag Irpin. In der Kleinstadt vor den Toren der Hauptstadt sind viele Gebäude nur noch Ruinen.
 ?? Dpa-BILD: Gaertner ?? Präsident Wolodymyr Selenskyj begrüßte Außenminis­terin Baerbock in Kiew per Handschlag.
Dpa-BILD: Gaertner Präsident Wolodymyr Selenskyj begrüßte Außenminis­terin Baerbock in Kiew per Handschlag.
 ?? Dpa-BILD: Stein ?? In einer Kirche in Butscha entzündet Außenminis­terin Baerbock eine Kerze für die Opfer des Massakers.
Dpa-BILD: Stein In einer Kirche in Butscha entzündet Außenminis­terin Baerbock eine Kerze für die Opfer des Massakers.

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