ZWEI HANDVOLL LEBEN
126. Fortsetzung
,,Ida!", schrie Emma entsetzt auf. ,,Um Gottes willen! Halt endlich den Mund!"
Ida merkte erst jetzt, was sie gerade angerichtet hatte. Anna war blass geworden. Ihr stand die nackte Angst im Gesicht. Auch ihre eigene Mutter hatte nach Dora noch eine Totgeburt gehabt und wäre danach fast verblutet. Hilfesuchend sah sie zu ihrer großen Schwester, die genau wusste, was sich jetzt in ihrem Kopf abspielte.
,,Tut mir leid!", murmelte Ida, und dabei stieg ihr die Röte in das Gesicht. ,,Aber das heißt ja nicht, dass Anna das auch passiert. Meine Mutter hat auch während ihrer Schwangerschaften immer noch schwer in der Wäscherei gearbeitet und …"
,,Ida! Sei still. Jetzt sofort!", herrschte Emma sie in einem so drohenden Tonfall an, wie ihn Ida noch nie von ihr gehört hatte. Emma legte Anna den Arm um die Schultern. Dann flüsterte sie ihr zu:
,,Mach dir keine Sorgen! Schließlich habe ich zwei gesunde Kinder bekommen. Bei dir wird es genauso werden."
Doch in Annas Gedanken stiegen die Bilder jener Nacht hoch. Ihre Mutter hatte schon den ganzen Tag in den Wehen gelegen. Ihre nur halb unterdrückten Schreie hatten die Kinder nicht schlafen lassen. Auf der steilen Treppe vor der Schlafkammer hatten sie alle aufgereiht gesessen, sich aneinandergepresst und darauf gewartet, dass sie endlich den erlösenden Schrei des Neugeborenen hörten. Der versteinerte Blick ihres Vaters, das Bündel auf den Armen. Ein winziger, lebloser Körper. Ganz blau sei der kleine Junge gewesen, hatte sie hinterher gehört.
Emma griff ihre Hand und sah ihr in die Augen: ,,Weißt du, wie man solchen Sorgen am besten begegnet?" Ohne Annas Antwort abzuwarten, gab sie sie selbst: ,,Mit Arbeit. Und keine Angst: Am Zeichentisch oder an der Nähmaschine zu sitzen, hat in der Hinsicht noch keiner Frau geschadet!"
CHARLOTTE Charlotte rückte die bauchige Blumenvase aus geätztem Glas auf dem Couchtisch gerade, sog den süßen Duft der Callasblüten tief ein. Sie sah sich in ihrem Wohnzimmer um. Auch nach fast anderthalb Jahren fühlte sie sich hier immer noch wie eingesperrt. In kürzester Zeit nach ihrer überstürzten Abreise hatte sie die geräumige Wohnung im Leipziger Musikviertel gefunden, die neuen Möbel ausgesucht und den Umzug durchgeführt. Ernsts überschaubare Habseligkeiten von seinem Zimmer in der Kupfergasse zur Mozartstraße bringen zu lassen, hatte nicht viel Zeit in Anspruch genommen. Das meiste, was er besaß, waren Fachbücher. Für einen ihrer neuen Räume hatte sie Regale anfertigen lassen, die vom Boden bis zur Decke reichten. Sie öffnete beide Flügel des Fensters und lehnte sich über die schmiedeeiserne Brüstung des kleinen Balkons. Der ungeliebte Geräuschpegel der Stadt drang an ihre Ohren. Die dreijährigen Ulmen schluckten mit ihren spärlich belaubten Ästen nur wenig Verkehrslärm. Ein offenes Automobil fuhr direkt unter ihr vorbei, und die Topfhüte der zwei elegant gekleideten Damen schienen zum Greifen nah. In der Gegenrichtung kam ein zweispänniger Landauer angerollt. Charlotte konnte nicht anders: Sie taxierte das Alter und die Qualität der zwei Rappen. Es waren edle, gut gepflegte Tiere. Im großstädtischen Straßenbild waren Pferdekutschen inzwischen seltener geworden.
Wehmut befiel sie. Ob sie sich jemals daran gewöhnen würde, von Stein und Asphalt umgeben zu sein statt von goldgelben Kornfeldern und grünen Wiesen? Keinen Hahn mehr um fünf Uhr früh krähen zu hören, danach das Muhen der Kühe, die auf den Melker warteten? Nie mehr vor Morgengrauen zur Jagd aufzubrechen oder mit ihrer Stute im Frühnebel über die Felder zu galoppieren? Sollte ihr Leben jetzt wirklich hier in Leipzig stattfinden? Nun, im fünften Schwangerschaftsmonat, hätte sie zwar ohnehin nicht mehr reiten können. Die jahrelangen offenen Vorwürfe von Ernst über ihre offensichtliche Unfruchtbarkeit und entsprechenden Repliken ihres Vaters, wie sehr die häufige Abwesenheit des Ehemanns dem Kinderwunsch zuwiderlaufe, hatten nun ein Ende. Ihr Vater hatte mit seinen Sticheleien wieder einmal recht behalten. Aber gerade im Hinblick auf ihr bevorstehendes Kindbett hätte sie sich auf Feltin besser aufgehoben gefühlt. Und das alles nur, weil sich Ernst und Richard über ein paar dumme
Ferkel gestritten hatten? Sie wusste, dass das nicht der tiefere Grund war, sondern nur der Anlass für ihr Zerwürfnis. Die dauernden Machtkämpfe zwischen ihrem Vater und Ehemann hatten darin ihren Höhepunkt gefunden. Sie hätte sich denken können, dass er Ernsts Versuchsreihen nur so lange tolerieren würde, wie sie nicht mit seinen ertragsorientierten Vorstellungen kollidierten. Richard war ein Gutsherr durch und durch. Er ließ sich von nichts und niemandem in seine Entscheidungen hineinreden. Sie würde sich, zumindest vorerst, damit abfinden müssen und das Beste daraus machen, und wenigstens hatte Lisbeth ihr versprochen, nach ihrer Niederkunft nach Leipzig zu kommen.
Charlotte sah auf die Kaminuhr, die von zwei bronzenen Panthern gehalten wurde. Es war gleich halb vier, und sie erwartete Cäcilie, Edith und zwei ihrer Freundinnen zum Kaffee. Fortsetzung folgt