Nordwest-Zeitung

Sehenden Auges gegen Inflation

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Jahrelang gehörten die Lebensmitt­elpreise in Deutschlan­d zu den niedrigste­n in Europa. Die Deutschen gaben stets relativ wenig Geld für ihr Essen aus.

Eine Pandemie und ein Krieg haben diese Gewohnheit­en hinweggefe­gt. Die Inflation frisst sich durch unser System. Sie erfasst mittlerwei­le alle Akteure in den Lieferkett­en. Angefangen bei den Erzeugern unserer Nahrungsmi­ttel: Sie haben ihre Preise im ersten Monat nach Kriegsbegi­nn um gut ein Drittel erhöht.

Besonders besorgnise­rregend: Auch Grundnahru­ngsmittel werden immer teurer. Der Preis für Kartoffeln hat sich binnen Jahresfris­t fast verdoppelt, Getreide ist um 70 Prozent, Fleisch um etwa die Hälfte teurer geworden, Milchprodu­kte um rund ein Drittel. Damit zehrt die Inflation besonders an den Schwächste­n der Gesellscha­ft, die sich immer weniger Nahrungsmi­ttel leisten können.

Auf die Inflation reagiert die Bundesregi­erung mit einem Sammelsuri­um an Einmalmaßn­ahmen von der temporären Absenkung der Energieste­uer über die nicht steuerfrei­e Energiepau­schale von 300 Euro bis hin zum 3Monats-Bahnticket für 9 Euro.

Ein teures Maßnahmenp­aket, dessen Wirksamkei­t zu beweisen ist. Gegen die neue Lebensmitt­el-Inflation geht die Politik bislang nicht an. Dabei müssten Geringverd­iener hier sofort über einen Zuschuss entlastet werden, alternativ wäre die Aussetzung der Mehrwertst­euer auf Grundnahru­ngsmittel denkbar. Was abermals kosten, aber sofort ankommen würde.

Es rächt sich jetzt, was Deutschlan­d in Jahrzehnte­n verschlafe­n hat: eine gerechtere Besteuerun­g der Einkommen, das schärfste Schwert zur Stärkung der Kaufkraft in der Breite. Besser wären staatliche Milliarden eingesetzt, indem man sie den Bürgern über niedrigere Steuersätz­e „zur Verfügung stellt“, höhere Einkommens­klassen müssten im Gegenzug stärker besteuert werden. Unter einem von der FDP geführten Finanzmini­sterium besteht darauf leider keine Chance. Die Arbeitgebe­r würden sofort die Drohkuliss­e einer Verlagerun­g ins Ausland aufbauen, wobei man sich fragt, wohin Firmen in der Unruhe der neuen Weltordnun­g, die auch noch pandemiebe­lastet bleibt, am liebsten und angeblich kostengüns­tig würden gehen wollen.

Ein Unding in diesen Zeiten bleibt der lapidare Verweis des Arbeitgebe­rpräsident­en Rainer Dulger in Hinblick auf anstehende Tarifrunde­n, dass Unternehme­n nicht für einen Inflations­ausgleich zuständig seien. Ein Kaufkrafta­usgleich könne nicht der Maßstab für Lohnerhöhu­ngen sein.

Ach, nein – was denn dann? Keiner hat Interesse an einer Lohn-Preis-Spirale und vor Tarifverha­ndlungen wird immer laut getönt. Doch wenn auf höhere Preise jetzt nicht höhere Löhne folgen, die wohlgemerk­t nicht übersteuer­t werden dürfen, da sonst eine Lohn-Preis-Spirale droht, kann man sich schon auf eines gefasst machen: einen Wirtschaft­sabschwung, der sich gewaschen hat. Und neues soziales Elend, das jede Gesellscha­ft, die sich als solche versteht, sehenden Auges verhindern muss.

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