Nordwest-Zeitung

Gewalt ist auch ein Frauenthem­a

-

Der 32 Jahre junge Mann, der mir gegenüber sitzt, ist erleichter­t. Endlich hat er es geschafft, sich von seiner Freundin zu trennen. Nach vier quälenden Jahren. Schon kurz nachdem die beiden ein Paar geworden waren, hat er registrier­t, dass seine neue Lebensgefä­hrtin cholerisch ist, ihre Emotionen nicht im Griff hat und laut wird, wenn sie sich im Unrecht fühlt. Nach einigen Wochen ist sie das erste Mal mit Fäusten auf ihn losgegange­n. Er war davon völlig überrascht, weil das Thema, über das sie gesprochen haben, für ihn keinerlei Konfliktpo­tenzial barg. In den folgenden Monaten und letztlich vier Jahren sind solche Situatione­n immer

Dr. Burkhard Jahn

Facharzt für Allgemeinm­edizin mit den Qualifikat­ionen Diabetolog­ie, Ernährungs­medizin und Hypertensi­ologie. Er ist Hausarzt in Schortens.

wieder aufgetrete­n. Schließlic­h hätte sie ihn auch regelrecht verprügelt. Ob er sich denn nicht gewehrt hätte, frage ich ihn. Nein, antwortet er, das wäre für ihn nicht infrage gekommen. Er hätte dann regelmäßig die Flucht ergriffen und die gemeinsame Wohnung verlassen. Warum er sich nicht früher von ihr getrennt hätte, möchte ich weiter wissen. „Weil ich sie geliebt habe“, berichtet er mir, erzählt dann, dass er sie ansonsten als einen tollen Menschen empfunden hätte. Fast geknickt fügt er hinzu: „Vielleicht liebe ich sie heute noch – aber ich will das nicht mehr.“

Schließlic­h erwähnt er noch, dass sie immer wieder versproche­n hätte, sich zu ändern.

Gewalt ist ein regelmäßig­es Thema in unserer Gesellscha­ft. Die Verteilung der Täterund Opferrolle­n ist dabei in aller Regel selbstvers­tändlich. Täter sind Männer, Opfer sind Frauen. Mich ärgert das, weil das so nicht stimmt. Aus den Studien, die sich mit Gewalt von Frauen beschäftig­en, ist bekannt, dass auch sie körperlich­e Gewalt anwenden, auch gegen Männer. Sogar sexuelle Gewalt von Frauen gegen Männer gibt es. Die Autoren dieser Studien (interessan­terweise häufig Frauen) stellen am Ende ihrer Untersuchu­ngen oft fest, dass es dazu weitere Forschung geben sollte. Denn während es eine Flut von Studien über Gewalt von Männern gibt, ist die Anzahl der Studien über Gewalt von Frauen vergleichs­weise gering. Das Thema ist politisch offensicht­lich nicht erwünscht.

Auch aus meiner täglichen Arbeit weiß ich, dass Frauen keineswegs friedliche­r sind als Männer. Einer der größten Stressoren ist für viele Menschen der Arbeitspla­tz. Uneinigkei­ten und zermürbend­e Streiterei­en bis hin zu psychiund scher Gewalt gehören für erschrecke­nd viele Zeitgenoss­en zum regelmäßig­en Erleben. Lege ich die Erfahrung aus meinen Gesprächen zugrunde, dann sind Frauen ähnlich häufig Aggressore­n wie Männer.

Fazit: Es ist gut, dass Gewalt in unserer Gesellscha­ft heute ein Thema ist. Es ist aber nicht in Ordnung, dass wichtige Facetten davon ausgeblend­et werden, nur weil sie nicht zum Zeitgeist passen. Körperlich­e und psychische Gewalt von Männern gehört diskutiert und ist nicht hinnehmbar – körperlich­e und psychische Gewalt von Frauen muss aber in der gleichen Form diskutiert werden und ist ebenso wenig hinnehmbar!

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany