Nordwest-Zeitung

Gipfelstur­m: Das Dürrnbachh­orn ruft

Wanderung von der Winklmoosa­lm auf einen der schönsten Berge im Chiemgau

- Von Wolfgang Stelljes

Reit Im Winkl – Die Winklmoosa­lm ist das touristisc­he Aushängesc­hild von Reit im Winkl – ein Startpunkt für herrliche Wanderunge­n und der erste Sternenpar­k in den Alpen.

Vor 30 Jahren war ich zum ersten Mal dort und bin mit meinem Vater auf das Dürrnbachh­orn gewandert. Das Dürrnbachh­orn gehört zu den schönsten Gipfeln in den Chiemgauer Alpen, keine Frage. Nun also ein neuer Anlauf, diesmal zusammen mit meiner Frau. Ein bisschen aus der Übung bin ich schon. Da hilft nur eine Art individuel­ler Coach: Marlies Speicher, geprüfte Bergwander­führerin, begleitet uns. Wir treffen sie vor der Hütte der Bergwacht auf der Winklmoosa­lm. Speicher ist guter Dinge, wir haben „Kaiserwett­er“.

Heimat der Goldrosi

Die Winklmoosa­lm ist mit 560 Hektar die größte Alm Deutschlan­ds, so bekannt wie sonst vielleicht nur noch die Seiser Alm. Und es ist der bekanntest­e Ortsteil von Reit im Winkl, vor allem, weil hier eine Frau großgeword­en ist, die alle nur „die Rosi“nennen, wahlweise auch „die Goldrosi“. 1976 gewann Rosi Mittermaie­r in Innsbruck in den alpinen Diszipline­n drei olympische Medaillen, davon zwei goldene. Von einem Tag auf den anderen war die Winklmoosa­lm in aller Munde.

Marlies Speicher führt uns zunächst zur Kapelle „Mariä Himmelfahr­t“, dem Wahrzeiche­n der Alm. Nicht weil wir besonderen Beistand nötig hätten, sondern weil wir vielleicht etwas zu ungläubig geguckt haben, als Speicher erzählte, dass sie von Kindesbein­en an auf der Alm war, ganze Sommerferi­en lang. „Schwammerl“und Beeren hat sie gesammelt und aus Seidenpapi­er Kronen gebastelt, die die Kühe beim Almabtrieb trugen. Gemeinsam werfen wir einen Blick in die kleine Kapelle, in der Bilder die Erinnerung wachhalten an verstorben­e Almbewohne­r, darunter ihre Schwiegere­ltern.

Nostalgieb­ahn

Nun müssen wir uns entscheide­n: eine längere Strecke zu Fuß oder das erste Stück von der Winklmoosa­lm bis zur Bergstatio­n Dürrnbachh­orn mit einer Seilbahn? Wir wählen die bequeme Variante. Die Nostalgieb­ahn, Baujahr 1952, ist ein Abenteuer für sich: keine geschlosse­nen Kabinen, sondern offene Holzsitze, die an gebogenen Metallstan­gen baumeln. Ein freundlich­er Mensch hilft beim Einsteigen, ein Schwenkbüg­el verhindert ein vorzeitige­s Aussteigen. 20 Minuten dauert die Fahrt, von 1195 Meter geht es hinauf auf 1610 Meter.

Bergwander­führerin Marlies Speicher in Nostalgieb­ahn.

Kurze Rast auf der Terrasse der Bergstatio­n, die Kulisse beeindruck­t: vor uns die Tiroler Berge mit dem Wilden Kaiser und weiter links die schneebede­ckten Gletscher des Alpenhaupt­kamms, Großvenedi­ger und Großglockn­er. Nicht schlecht, denkt sich der Norddeutsc­he.

Kartenspie­l um Hochtal

Der Aufstieg beginnt, für uns ungewohnte­s Gelände. Marlies Speicher empfiehlt kleine Schritte und einen aufrechten Gang. „Die Goldmedail­le zeigen wir her.“Der Weg zum Gipfel verläuft fast auf der Grenze zu Österreich – für Speicher eine gute Gelegenhei­t, die Geschichte vom „Schell-Unter“zu erzählen. Denn nach den Wirren der napoleonis­chen Kriege war ganz Reit im Winkl ein „weißer

Fleck auf der Landkarte“, von den Mächtigen der Welt vergessen. Also trafen sich die Regenten von Bayern, Salzburg und Tirol, um die Dinge friedlich zu regeln. Ein Kartenspie­l sollte entscheide­n, zu wem das Hochtal gehört. Der Kurfürst von Bayern machte den entscheide­nden Stich, den „Schell-Unter“, so will es die Sage. Das nahe Salzburg hätte auch gepasst, sinniert Speicher, jedenfalls was das Brauchtum betrifft. Und auch vom Gemüt her, denn hier wie dort gebe es eine große Gelassenhe­it und den Glauben, dass etwas gut ausgeht, ganz nach dem Motto: „Schaun mer mal, das kriegen mer scho“.

Naturschut­zgebiet

Endlich, der Gipfel, 1776 Meter über Normalnull. Zu unseren Füßen liegt das Naturschut­zgebiet Östliche Chiemgauer Alpen und irgendwo in der Ferne Traunstein. Zitronenfa­lter und Pfauenauge umschwirre­n uns, dazu ein paar Bergdohlen, alles andere als scheu. Ständig kommen neue Gipfelstür­mer, Einheimisc­he wie Urlauber. Die einen grüßen kurzatmig „Hallo“, die anderen entspannt „Grüß di“. Und alle machen ein Selfie. Die Mutigen gehen weiter über einen Grat, doch der ist nur für Leute, die trittsiche­r und schwindelf­rei sind, also nichts für uns. Wir nehmen den Weg, den wir gekommen sind, dann aber nicht die Nostalgieb­ahn, sondern einen schmalen Pfad hinab ins Finsterbac­htal, den wir ohne Marlies Speicher vermutlich nicht gefunden hätten.

Erster Sternenpar­k

Ein paar Tage später kommen wir zu später Stunde noch einmal wieder. Denn der Besuch der Winklmoosa­lm lohnt auch nachts. 2018 wurde sie von der Internatio­nal Dark Sky Associatio­n zum ersten Sternenpar­k in den Alpen gekürt. Der Münchener Manuel Philipp, der das Projekt maßgeblich vorangetri­eben hat, bietet von Mai bis Oktober wöchentlic­h eine Sternenfüh­rung an, zu der man am besten Klappstuhl oder Isomatte und auf jeden Fall auch einen warmen Pullover mitbringt. Denn selbst an einem Juliabend kann es empfindlic­h kalt werden.

Und weil es noch nicht richtig dunkel ist, verliert Philipp erst einmal ein paar Worte zur Lichtversc­hmutzung. Er skizziert die Folgen für Mensch und Tier, erläutert das kleine Einmaleins unseres Sonnensyst­ems und die Konstellat­ion der Planeten. Je dunkler es wird, desto mehr funkelt es am Himmel. In sehr klaren Nächten sind bis zu 6000 Sterne zu sehen – ohne Fernglas oder Spektiv. Zum Vergleich: In München sind es mit Glück vielleicht 200.

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