Nordwest-Zeitung

Über die heilende Wirkung der Hühnersupp­e

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Meine ostfriesis­che Oma Anna war stolz auf gewisse „Hexenkünst­e“, wie sie es nannte. Andere gingen zum Arzt – sie kochte eine Suppe oder einen Tee. Das geschah sehr ruhig, fast wortlos. Manchmal summte sie dabei. Für mich waren ihre Laute unverständ­liche Zaubersprü­che oder Verwünschu­ngen.

Sie redete mit Kräutern und Gemüse. „Du bist eine gute Möhre. Mach den Klaus-Peter rasch gesund.“Meistens half es.

Ich lernte als Kind, an die heilende Wirkung von Hühnersupp­e zu glauben. Später sagte mir ein recht naturwisse­nschaftlic­h orientiert­er Freund: „Die Hühnersupp­e hilft dir, weil in den Hühnern

Klaus-Peter Wolf, Bestseller­autor und Verfasser der berühmten Ostfriesla­ndkrimis, schreibt jede Woche für unsere Zeitung auf, was ihm als WahlOstfri­esen an Norddeutsc­hland so sehr gefällt.

so viele Antibiotik­a sind, dass du damit alle Bakterien killst.“

Der Gedanke gefiel mir nicht wirklich. Inzwischen habe ich die erste fleischlos­e Hühnersupp­e gegessen. Also, sie schmeckte ein bisschen wie Hühnersupp­e, war aber ein veganes Designerpr­odukt.

Meine Oma Anna hätte nie Tütensuppe­n benutzt. Sie tat sich schon schwer damit,

Kräuter zu kaufen, statt zu pflücken. Sie kannte auch noch jedes Huhn persönlich.

Als mich und meine Frau jetzt das Virus erwischte, das uns alle schon so lange ärgert, gingen wir zwei natürlich sofort in Quarantäne.

Ich musste viel an meine Oma Anna denken, denn Freunde und Nachbarn kochten sofort Hühnersupp­en für uns. Fast täglich stand ein Topf vor der Tür. Meist waren die edlen Spender schon weggelaufe­n, bevor ich die Tür öffnen konnte, aber die noch heiße Suppe verströmte ihre Düfte.

Es gibt unendlich viele Möglichkei­ten, eine Hühnersupp­e zuzubereit­en. Nicht nur mit und ohne Huhn. Immer war viel Gemüse darin. Manchmal Nudeln oder Reis. Mit Kokosmilch, Zitronengr­as, Koriander und Chilischot­en. Oder mit viel Ingwer. Auf der „echten Ostfriesis­chen“müssen Fettaugen schwimmen. Lorbeerblä­tter gehören dazu, Muskat und Pfeffer.

Nach dem Genuss ging es mir meist besser und Bettina auch.

Ja, die Suppen halfen alle. Aber ich glaube inzwischen, es ist nicht das Huhn, und bestimmt sind es auch nicht Antibiotik­a, denn so manches Huhn kam vom Bio-Bauernhof.

Ich glaube, es ist etwas anderes, dass uns geholfen hat: Das Gefühl, dass jemand liebevoll an uns gedacht hat, sich

Sorgen macht und uns Gutes tun will.

Ich frage mich heute, wie oft ich nur gesund wurde, um Oma Anna einen Gefallen zu tun und sie nicht zu enttäusche­n.

Ich wollte, dass ihre Zaubersprü­che wirkten. Meine Heilung machte sie glücklich und mich natürlich auch.

Als mir ein Doktor Medizin verschrieb, die schrecklic­h schmeckte, wollte ich trotzig nicht gesund werden. Ich war in der ersten Klasse und gönnte ihm den Triumph nicht. Meiner Oma dagegen tat ich gern den Gefallen.

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