Nordwest-Zeitung

Dramatisch­es Dilemma

Warum wir um den richtigen Umgang mit dem Ukraine-Krieg ringen müssen

- Von Ulrich Schönborn

Autor ist Ulrich Schönborn. Er ist Chefredakt­eur der NWZ Mediengrup­pe und langjährig­er Beobachter der Entwicklun­gen in Osteuropa. @ Den Autor erreichen Sie per Mail unter Schoenborn@infoautor.de „Neben

der Frage, wie die Ukraine den Krieg gewinnen kann, darf die Frage, wie der Krieg beendet werden kann, nicht in Vergessenh­eit geraten.

Schlag-Zeilen

In der politische­n und gesellscha­ftlichen Diskussion um den Ukraine-Krieg offenbart sich ein dramatisch­es Dilemma: Man kann nichts richtig machen.

Will man das akute Leiden und Sterben in dem überfallen­en Land beenden, ginge das nur mit Zugeständn­issen an den Aggressor Russland. Diese Zugeständn­isse bergen, neben dem indiskutab­len und inakzeptab­len Eingriff in die ukrainisch­e

Souveränit­ät, allerdings unkalkulie­rbare Risiken für weitere Staaten im russischen Fokus – vor allem für die bündnisfre­ien ehemaligen Sowjetrepu­bliken Moldau und Georgien.

Zugeständn­isse bergen zudem ein Eskalation­srisiko, das die gesamte Nato betrifft. Russische Begehrlich­keiten in Richtung Polen und der baltischen Staaten – alles Nato-Mitglieder und Anrainer der russischen Enklave Kaliningra­d – werden in den russischen Staatsmedi­en offen propagiert. Und seit der Invasion in die Ukraine weiß man: Russlands Präsident Wladimir Putin ist imperiale Geopolitik wichtiger als rationale Risikoabwä­gung. Er setzt auf die gewaltsame Durchsetzu­ng seiner Ziele.

Ritt auf der Rasierklin­ge

Derzeit kann Putin offenbar nur militärisc­h und nicht diplomatis­ch gestoppt werden

– wo wir wieder bei der Verlängeru­ng von Leiden und Sterben in der Ukraine sind. Militärisc­he Hilfe für die Ukraine geht zudem nur mit Waffenlief­erungen aus Nato-Staaten – was ebenfalls die latente Gefahr einer Eskalation des Krieges weit über die Ukraine hinaus vergrößert. Das ist und bleibt wohl noch für Monate ein Ritt auf der Rasierklin­ge.

Bei diesem Ritt auf Aktionismu­s zu setzen, ist indes keine gute Strategie.

Dass Bundeskanz­ler Olaf Scholz bei der Zusage für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine auch unter höchstem öffentlich­en Druck zögerte, kostete ihn mehr Konsequenz und Standhafti­gkeit als die markige Entschloss­enheit von Friedrich Merz. Während Scholz seiner Verantwort­ung in dem eingangs beschriebe­nen Dilemma gerecht wurde, nutzte Merz das Thema hemmungslo­s für wahlund parteitakt­ische Manöver aus.

Wenn wir auf einem Pulverfass sitzen, ist mir ein besonnener Kanzler lieber als ein Publicity-Talent auf der Opposition­sbank.

Unreflekti­erte Empörung

Wie schon zu Corona-Zeiten treibt unterdesse­n auch der gesellscha­ftliche Diskurs bei uns wieder seltsame Blüten. Nur ein Beispiel ist der von Künstlern und Intellektu­ellen unterzeich­nete Brief von Alice Schwarzer an Olaf Scholz, in dem sie für eine Deeskalati­on warb und dabei zuweilen Ursachen und Wirkung problemati­sch verdrehte. Darüber muss man diskutiere­n. Vor allem auf Twitter und Co. brach aber gleich ein formidable­r Shitstorm los. Das erinnerte fatal an die Berufsverb­ots-Rufe vor gut einem Jahr, nachdem sich namhafte Musiker und Schauspiel­er unter dem Motto #allesdicht­machen gegen den Corona-Lockdown gewehrt hatten.

In dieses Bild unreflekti­erter Empörung passt auch die reflexhaft­e Ächtung russischer Kunst und Kultur, die wir derzeit erleben – als ob eine Verbannung von Tolstoi, Tschechow und Tschaikows­ky aus Bibliothek­en, Theatern und Konzertsäl­en der geschunden­en Ukraine irgendwie helfen würde.

Der Ukraine-Krieg ist in seiner ganzen Brutalität real, Verlauf und Ausgang sind offen. Die Illusion eines friedliche­n Zusammenle­bens unabhängig­er Länder in Europa und die Hoffnung auf Frieden durch wirtschaft­liche Bindungen sind jäh geplatzt. Wir sehen Gewalt, Zerstörung und Tod in unmittelba­rer Nähe und müssen lernen, mit Kontrollve­rlust, Angst und Ungewisshe­it umzugehen.

Ehrlich sein

Was also tun, wenn man nichts richtig machen kann?

Wichtig ist, im Dilemma zwischen Kriegsleid und Aggressor-Abwehr den Überblick zu behalten. Neben der Frage, wie die Ukraine den Krieg gewinnen kann, darf die Frage, wie der Krieg beendet werden kann, nicht in Vergessenh­eit geraten.

Wichtig ist auch eine offene Kommunikat­ion: Wenn man keine Gewissheit­en mehr liefern könne, müsse man es mit Ehrlichkei­t probieren und Entscheidu­ngen nicht verkünden, sondern die Bürgerinne­n und Bürger an Entscheidu­ngsprozess­en teilhaben lassen, betonte mein Kollege Lars Haider, Chefredakt­eur des Hamburger Abendblatt­s, jüngst in dieser Kommentar-Reihe.

Diese Offenheit setzt aber auch die Bereitscha­ft voraus, Abwägung nicht sofort als Schwäche abzukanzel­n.

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