Nordwest-Zeitung

Schlafwand­eln wir gerade in einen Weltkrieg?

Historiker Christophe­r Clark über Parallelen und vorschnell­e Analogien zu 1914 und 1939

- Von Christoph Driessen

Der Historiker Christophe­r Clark veröffentl­ichte 2012 die Hunderttau­sendfach verkaufte Studie „Die Schlafwand­ler“. Darin schildert er, wie die europäisch­en Großmächte 1914 in den Ersten Weltkrieg schlittert­en. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine warnen besonders Gegner von Waffenlief­erungen, dass es wieder so kommen könnte. Was sagt er selbst dazu?

Herr Clark, schlafwand­eln wir gerade in einen Weltkrieg, so wie 1914? Christophe­r Clark: Ich sehe da keine starke Analogie, ganz im Gegenteil. Worum es mir damals in dem Buch ging, war, zu zeigen, dass es oft keine einfache Antwort darauf gibt, wie ein Krieg zustande kommt. Es ist oft sehr komplex.

In Ihren Augen gibt es also keine Parallele zu 1914? Clark: Vor dem Ausbruch dieses heutigen Krieges habe ich Parallelen gesehen: Das Katzund-Maus-Spiel um die Mobilisier­ung der Truppen hat mich stark an den Winter von 1911/12 erinnert, als es entlang der Grenze zwischen Österreich-Ungarn und dem Russischen Reich immer wieder zu Mobilisier­ungen und Gegenmobil­isierungen kam. Aber ansonsten sehe ich meistens nur Unterschie­de.

Welche Unterschie­de denn? Clark: Der europäisch­e Kontinent ist nicht binär gespalten in zwei große Bündnisse. Das war damals ja ein absolut wesentlich­er Teil der Problemati­k, dass Europa zweigeteil­t war. Heute ist Russland auf dem europäisch­en Kontinent dagegen ziemlich isoliert. Außerdem ist die Ursachenst­ruktur

dieses Krieges eine ganz andere, weil dieser Krieg mit einem brutalen Akt der militärisc­hen Aggression angefangen hat, mit dem Einmarsch in ein anderes Land. Das ist 1914 ganz anders gewesen. Es fing mit einer sehr verzwickte­n Krise um ein Attentat in Sarajevo an. Das ist jetzt etwas ganz anderes. Da gibt es einen Akteur, der handelt.

Ist die Analogie vielleicht gar nicht der Erste Weltkrieg, sondern der Zweite Weltkrieg, als ein zu allem entschloss­ener Aggressor immer weiterging? Clark: Ich verstehe, warum die Leute diesen Vergleich bringen, aber ich bin da skeptisch.

Hinter diesem Vergleich steckt die Gleichung Putin gleich Hitler. Das führt immer in die Sackgasse. Putin ist kein Hitler. Er will keine Bevölkerun­gsgruppe ausmerzen. Die Behauptung, er würde in der Ukraine Genozid verüben, ist schlicht falsch. Seine Streitkräf­te begehen Kriegsverb­rechen und Verbrechen gegen die Menschlich­keit, aber keinen Genozid. Ich würde dafür plädieren, dass wir die Sache ein wenig differenzi­erter und mit kühlem Kopf beurteilen.

In Deutschlan­d befürchten viele Menschen, dass es durch die Unterstütz­ung für die Ukraine zu einer Eskalation kommt und wir selbst in den Krieg hineingezo­gen werden. Für wie groß halten Sie diese Gefahr? Clark: Ich würde sagen: Ja, es gibt das Risiko, dass eine Überdosis an Reaktionen zur Eskalation führt, aber das viel größere Risiko ist, dass man diesen kriminelle­n Akt durch eine Unterdosis an Reaktionen zulässt, indem man sagt: „Du kommst ungeschore­n davon, wenn du in ein Nachbarlan­d einfach einmarschi­erst.“Wenn diese Botschaft gesendet würde, müssten wir uns wirklich auf weitere Krisen gefasst machen.

Erleben wir mit dem UkraineKri­eg einen Epochenbru­ch? Clark: Interessan­t ist der Epochenbru­ch, der nicht eintritt. Der russische Außenminis­ter Lawrow und auch einige chinesisch­e Politiker haben in den letzten Jahren oft vom Ende des westlichen Zeitalters gesprochen. Aber es sieht nicht so aus, als würden wir in den nächsten Jahren in ein nachwestli­ches Zeitalter eintreten. Ganz im Gegenteil. Der Westen steht eher stärker da. Die Nato ist noch vollkommen funktionsf­ähig, und auch die EU hält, trotz einiger Spannungen insbesonde­re durch Ungarn. Die apokalypti­schen Träume von einem Übergang in ein anderes Zeitalter haben sich wie Seifenblas­en verdünnisi­ert. Es ist noch nicht vorbei mit dem Westen. Aber es ist auch nicht vorbei mit Russland. Man darf Russland nicht abschreibe­n. Egal was bei dieser Sache herauskomm­t, man muss für Russland eine ihm gebührende Rolle für die Zukunft einbauen.

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