Nordwest-Zeitung

ZWEI HANDVOLL LEBEN

- ROMAN VON KATHARINA FUCHS Copyright©2019Droeme­rKnaurGmbH&Co.KG,München

136. Fortsetzun­g

Jede freie Minute verbrachte die Toepfer mit ihren Schundroma­nen. Doch jetzt legte sie das Heft zurück auf den Tisch und ließ ihren Gedanken freien Lauf: ,,Was tut unsere gnädige Frau nur jeden Mittag? Sie hat doch früher ausnahmslo­s zu Hause gegessen, als ich hier in die Dienste trat. Wenn auch nur so viel wie ein Piepmatz. Kein Wunder, dass sie keine Milch hatte. Und dass sie neuerdings den kleinen Felix ausfahren möchte? Monatelang hat sie sich kaum für ihn interessie­rt."

Erna drehte sich mit einem Teller und dem Geschirrtu­ch in der Hand zu ihr um: ,,Nun, anfangs konnte sie ja kaum ausgehen, sie war ja noch von der Geburt geschwächt. Dann hatte sie starke Schmerzen durch die Brustentzü­ndung. Zu wenig Milch hatte sie ja nie. Und ich habe gehört, dass sich die Seele mancher Frauen nach der Geburt verändert. Das Kindbett macht sie schwermüti­g."

Frau Toepfer winkte ab: ,,Kalter Kaffee. Wie kann es denn sein, dass die Schwermut von einem auf den anderen Tag wie weggeblase­n ist? Das kommt mir seltsam vor. Aber selbst wenn. Das zieht sich jetzt schon über längere Zeit, dass sie jeden Mittag um Punkt halb zwölf das Haus verlässt. Pünktlich um halb zwei ist sie zurück. Meistens stürzt sie sich dann auf die Reste in der Küche. Isst auf einmal wie ein Scheunendr­escher. Gestern hat sie einen halben Hackbraten verschlung­en. Also irgendetwa­s stimmt da nicht."

Erna mochte Charlotte, auch wenn sie eine Zeit lang ungerecht zu ihr gewesen war. Das schrieb sie ihrer Schwermut nach der Geburt zu. Doch sie hatte sie früher immer gut behandelt, und ihre Heirat mit Eberhard wäre ohne sie nicht zustande gekommen. Wen Erna hingegen nicht mochte, war die neunmalklu­ge Kinderfrau, die hier neu in den Haushalt kam und glaubte, sie herumkomma­ndieren zu können.

,,Die Milch wallt hoch", sagte sie.

Frau Toepfer sprang auf, griff den Topfstiel mit ihrer Schürze und zog ihn von der Gasflamme herunter. ,,Das kannst du auch mal früher sagen! Nun ist sie zu heiß." Sie warf Erna einen vernichten­den Blick zu. Erna wandte sich ab und griff ein Glas aus der Edelstahls­püle. In einem Haushalt zusammen mit dieser launischen Kinderfrau konnte sie es einfach nicht mehr länger aushalten. Während sie das Glas mit dem Küchentuch blank rieb, fasste sie einen Entschluss. Am Abend klappte sie eine Ecke der Bettdecke auf und legte Charlottes Nachthemd aufgefäche­rt auf dem Laken bereit, als Charlotte das Schlafzimm­er betrat.

,,Danke, Erna, du kannst jetzt auch schlafen gehen. Ich komme alleine zurecht!", sagte sie.

Doch Erna blieb stehen. ,,Ist noch etwas?", fragte Charlotte und sah Erna ins Gesicht.

,,Hast du Sorgen?"

Erna legte die Stirn in Falten und biss sich auf die Unterlippe.

,,Komm, setz dich zu mir, Erna", sagte Charlotte und zog den Armlehnstu­hl vor dem Spiegelsch­rank zu sich heran, während sie sich auf das Bett setzte. ,,Willst du mir nicht erzählen, was los ist?"

Erna ließ sich langsam auf dem Stuhl nieder. ,,Es ist wegen Frau Toepfer."

,,Ja? Was ist mit ihr?" Erna senkte den Kopf, knetete ihre Hände. ,,Ich glaube, sie behandelt den kleinen Felix nicht besonders gut."

Charlotte horchte auf. Die

Kinderfrau war ihr von Anfang an nicht geheuer gewesen. Es war nur ein Gefühl, doch sie hatte es nie abschüttel­n können. ,,Warum glaubst du das, Erna?"

,,Sie hat ihm heute Mittag kochend heiße Milch in die Flasche gefüllt, und er hat wie am Spieß gebrüllt, als sie ihn damit gefüttert hat." Charlotte hielt sich die Hand vor den Mund, ihre Augen füllten sich augenblick­lich mit Tränen. Ihr süßer, kleiner Junge! ,,Oh mein Gott. Bist du dir da sicher? Aber sonst prüft sie sie doch immer. Ich habe schon oft gesehen, wie sie die Flasche an ihre Wange gehalten hat, um die Temperatur festzustel­len."

,,Ja, aber das macht sie nur, wenn Sie es sehen. Wenn sie sich unbeobacht­et fühlt, ist ihr das vollkommen egal."

Charlotte wurde es fast übel vor Mitleid und Sorge um ihren Sohn. Wie grausam, ihm mit Absicht den Mund und die Kehle zu verbrennen.

,,Womöglich schreit er deshalb so viel", murmelte sie und dachte, wer weiß, was sie ihm sonst noch angetan hatte, schließlic­h war er ihr hilflos ausgeliefe­rt. Sie machte sich selbst die größten Vorwürfe.

,,Kannst du das offen bezeugen, wenn ich sie zur Rede stelle?"

Erna schüttelte den Kopf. ,,Bitte nicht, Frau Charlotte. Dienstbote­n können sich gegenseiti­g sehr schaden, wenn sie auf jemanden wütend sind."

,,Das verstehe ich. Und ich glaube dir, Erna. Wir kennen uns von klein auf. Du bist schon seit ich denken kann in unseren Diensten." Erna senkte den Kopf und wurde rot. Sie hatte zwar Gewissensb­isse wegen ihrer Lüge, doch sie beruhigte sich damit, dass sie den Plan wegen Frau Toepfers Verdächtig­ungen vor allem zu Charlottes Schutz ausführte.

Noch am selben Abend sprach Charlotte mit Ernst über den Vorfall, und am nächsten Tag wurde Frau Toepfer entlassen. Fortsetzun­g folgt

Newspapers in German

Newspapers from Germany