Nordwest-Zeitung

Sieg Russlands rückt in weite Ferne

Hohe Verluste nach drei Monaten Krieg – Frontlinie im Osten erstarrt

- Von Carsten Hoffmann

Kiew/Moskau – Drei Monate nach dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine hat Präsident Wladimir Putin sein Land in eine Situation militärisc­her und wirtschaft­licher Schwäche manövriert. Es sind nicht nur die Misserfolg­e auf dem Schlachtfe­ld. Auch aus einem weiteren Blickwinke­l wendet sich die Lage zu Ungunsten Moskaus: Das Schwarze Meer ist für die Flotte praktisch blockiert, die Ostsee wohl bald schon ein Binnenmeer fast ganz umgeben von Nato-Staaten, die dann bis in den höchsten Norden an Russland grenzen.

Ziele runtergesc­hraubt

Schon jetzt seien die Verluste Russlands in der Ukraine so hoch wie die der Sowjets in Afghanista­n, schätzte der britische Geheimdien­st am Montag. Dort starben Schätzunge­n zufolge rund 14 000 sowjetisch­e Soldaten, fast 54 000 wurden verwundet. Der britische Geheimdien­st geht davon aus, dass das bald auch die öffentlich­e Meinung in Russland beeinfluss­en werde. Dazu kommen die Folgen für Betriebe und Staatseinn­ahmen in Russland. Der Verkauf von fossiler Energie garantiert keine stabilen Einnahmen mehr. Auch der „brain drain“– der Verlust schlauer Köpfe aus den Technikbra­nchen – kann zum Problem für Russland werden.

Putin müsse für seine „Barbarei“in der Ukraine einen hohen Preis bezahlen, forderte kürzlich US-Präsident Joe Biden. Er stellt Milliarden­beträge für die Verteidigu­ng der Ukraine bereit. Moderne und schwere Waffen schicken auch die Europäer. Der ganze Krieg ist für das westliche Bündnis wie eine sicherheit­spolitisch­e Frischzell­enbehandlu­ng.

Moskau musste seine Ziele dagegen deutlich runterschr­auben und forciert Angriffe auf Sjewjerode­nezk und Lyssytscha­nsk. Der Ballungsra­um um die ehemaligen Großstädte ist der einzige Flecken in der Region Luhansk im Osten der Ukraine, den die kiewtreuen Truppen noch halten.

Und dennoch ist der Kreml weiter von seinen Kriegsziel­en entfernt als noch zu Beginn der „militärisc­hen Spezialope­ration“. Genau definiert wurden die Ziele in der Öffentlich­keit nicht, um sich Spielraum offen zu lassen. Doch neben der Eroberung der Gebiete Donezk und Luhansk wurde auch offen mit dem Anschluss weiterer, vorwiegend russischsp­rachiger Regionen der Ukraine geliebäuge­lt – einem Gürtel von Charkiw bis Odessa – sowie die „Entnazifiz­ierung“und „Entmilitar­isierung“der Ukraine deklariert. Diese Worte konnten nichts anderes als den geplanten Sturz der Regierung in Kiew bedeuten.

Folgericht­ig zielte der russische Angriff anfangs auch direkt auf die ukrainisch­e Hauptstadt. Mit dem erbitterte­n Widerstand der Ukrainer hatte in Moskau niemand gerechnet. Alexej Leonkow, Militärexp­erte des kremlnahen

Journals „Arsenal des Vaterlands“, räumte Kiew am Tag des Überfalls zwei bis drei Tage bis zur Kapitulati­on ein.

Durchbruch gestoppt

Trotz allen nach außen hin demonstrie­rtem Zweckoptim­ismus gibt es inzwischen selbst in Moskau erste Eingeständ­nisse von Unzulängli­chkeiten. Die Front ist weitgehend erstarrt. Selbst die Fokussieru­ng auf den im Osten der Ukraine gelegenen Donbass hat keinen Durchbruch gebracht. Wo die Russen den Ukrainern an Feuerkraft voraus sind, haben diese wiederum dank der Drohnen eine bessere Übersicht sowie höhere Trefferquo­te und können so Durchbruch­sversuche der

Russen zumeist rechtzeiti­g stoppen.

Für die Ukrainer ist das Stoppen der russischen Offensive ein strategisc­her Sieg. Kiew mobilisier­t seit Monaten neue Truppen, während Moskau mit dem Schritt zögert, auch weil eine Mobilmachu­ng den eigenen Erfolgsmel­dungen und dem Standpunkt widerspric­ht, dass es sich um eine begrenzte „Spezialope­ration“und nicht um einen vollwertig­en Krieg handelt. Sicher scheint aber, dass Russland mit dem derzeitige­n Kräfteeins­atz nicht in der Lage ist, noch wesentlich voranzukom­men. Ob die frischen und mit westlichen Waffen ausgestatt­eten ukrainisch­en Truppen eine Wende erzwingen können, bleibt abzuwarten.

 ?? AP-BILD: Lukatsky ?? In Irpin bei Kiew haben die Russen große Schäden angerichte­t. Zurückzieh­en mussten sie sich trotzdem.
AP-BILD: Lukatsky In Irpin bei Kiew haben die Russen große Schäden angerichte­t. Zurückzieh­en mussten sie sich trotzdem.

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