ZWEI HANDVOLL LEBEN
137. Fortsetzung
Es war nicht besonders schwierig, eine neue Kinderfrau zu finden. Mit Helene Taubners Hilfe stellte sich schon bald eine junge ausgebildete Kinderkrankenschwester vor.
Frau Toepfer konnte sich mit ihrer ungerechtfertigten Entlassung ohne Zeugnis indessen nicht abfinden. Sie war sich sicher, dass Charlotte etwas zu verbergen hatte. Die fünfzigjährige Kinderfrau war ein wenig einfältig, aber sie besaß auch ein großes Maß an Lebenserfahrung. Charlotte war nicht die erste Frau, die ihren Ehemann betrog. Die Lektüre der unzähligen Kitschromane bestärkte sie in ihrem Verdacht. Und es war ganz leicht: Sie brauchte Charlotte bloß ein paarmal unbemerkt zu folgen, wenn sie mittags das Haus verließ. Ging ihr mit großem Abstand nach bis in die Haydnstraße.
Beobachtete von Weitem, wie Charlotte auf der anderen Straßenseite wartete und das
Haus mit der Stuckfassade anstarrte. Fein säuberlich notierte Frau Toepfer die Zeiten, zu denen Frau Klöß die Kanzlei verließ. Wann Charlotte die schwere eichene Haustür aufschob und im Haus verschwand. Sie vermerkte auch, um wie viel Uhr genau die Läden in dem zweiten Zimmer von links zur Straße geschlossen wurden und wann sie wieder auf der Straße erschien und, zum Schluss, welcher Name auf dem halb blinden Messingschild stand.
Als Charlotte zwei Wochen später von ihrem Treffen mit Leo zurückkam, blieb sie kurz vor dem facettierten Spiegel im Flur stehen. Der Bund ihres hellrosa Pullovers war nach oben geklappt, und sie drehte ihn um, nahm den cremefarbenen Hut ab, ordnete sich die Haare, musterte ihr Spiegelbild. Sie war ungeschminkt, so wie Leo es liebte. Durch die blonden Augenbrauen und Wimpern wirkte ihr Gesicht nackt und unschuldig!
,,Erna?", rief sie laut. Sie blieb still stehen und lauschte.
In der Wohnung herrschte eine tiefe Stille. Sie öffnete die Tür zur Küche: menschenleer.
Normalerweise war Erna um diese Zeit längst mit ihren Einkäufen zurück. Charlotte durchquerte den Flur zum Kinderzimmer, schob leise die angelehnte Tür auf. Felix schlief in seinem Bettchen, den Kopf zur Seite gedreht, die offenen Handflächen ruhten neben seinem Kopf. Die blonden Wimpern an den von Träumen bewegten Lidern, die kaum sichtbaren Augenbrauen – ein so engelsreiner Anblick.
Dann entdeckte Charlotte den Koffer neben der Kommode. Der Lederdeckel gegen die Wand geklappt. Akkurat waren Felix’ Strampelanzüge, Windeln und Jäckchen darin gestapelt. Charlottes Herz begann heftig zu klopfen. Ganz leise, um Felix nicht zu wecken, zog sie die
Schubladen der weiß lackierten Wickelkommode auf: leer!
Sie ging wieder in den Flur, hörte ihre eigenen leisen Schritte auf dem Läufer. Auch die Schlafzimmertür war nur angelehnt. Sie konnte den hochkant gestellten Schrankkoffer schon durch den Türspalt sehen. Der Ärmel ihres golddurchwirkten Plisseekleids schaute hervor, bewegte sich im Windhauch der aufgeschobenen Tür. Bevor sie näher trat, wusste sie, dass es alles ihre Kleider waren, die darin hingen. Ihre Seite des Kleiderschranks, ihre Kommode, die Schubladen ihres Schminktischs, alles war leer geräumt und in Koffern und Reisetaschen verstaut. Und das alles musste während der eineinhalb Stunden ihrer Abwesenheit vonstatten gegangen sein. Nur Ernsts Sachen waren noch unberührt an Ort und Stelle. Sie setzte sich kurz auf das Bett: Was ging hier vor?
Als sie das Wohnzimmer betrat, merkte sie sofort, dass sie jemand anstarrte. Sie wandte den Kopf um und sah in Richards Augen.
,,Vati!", sagte sie. ,,Wo kommst du denn her?"
Langsam ging sie auf ihn zu. Doch er stand nicht aus dem tiefen Sessel auf. Als sie sich hinunterbeugte, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben, ließ er die Hände auf den breiten Armlehnen liegen und war wie versteinert.
,,Interessanter wäre die Frage, wo du gerade herkommst", sagte er gepresst.
Sein kalter Blick verriet ihr, dass er bereits über ihr Verhältnis mit Leo im Bilde war.
Schuldig!, sagten seine Augen.
Charlotte stieg alles Blut in den Kopf. Sie spürte, wie sie bis unter ihren Haaransatz eine purpurne Röte überzog. Vor Scham wäre sie am liebsten in den Boden versunken. Ihr wurde schlagartig klar, dass dies die Rache ihres Ehemanns war. Sie hatte ihm wehgetan, und er wusste genau, wie er sie am tiefsten verletzen konnte. Indem er ihr die Achtung ihres Vaters nahm.
,,Hol den Jungen", sagte Richard. ,,Wir reisen ab!"
ZWEITES BUCH
ANNA
Die drei Mädchen rannten die Treppen des Wohnhauses Zwiestädter Straße 8 in BerlinNeukölln hoch. Anita war die Älteste und Schnellste. Sie nahm zwei Stufen auf einmal. Ihre langen, geflochtenen Zöpfe tanzten auf ihrem Rücken.
Sie sog den Geruch von frischem Bohnerwachs ein, der immer montags und donnerstags im Treppenhaus hing, und wusste, dass es gleich Ärger geben würde. Frau Kalinke, die Frau des Hausmeisters aus der Parterrewohnung, achtete auf peinliche Sauberkeit, und wenn sie nur einen Fußabdruck auf den Stufen fand, explodierte sie jedes Mal.