Nordwest-Zeitung

ZWEI HANDVOLL LEBEN

- ROMAN VON KATHARINA FUCHS Copyright©2019Droeme­rKnaurGmbH&Co.KG,München Fortsetzun­g folgt

137. Fortsetzun­g

Es war nicht besonders schwierig, eine neue Kinderfrau zu finden. Mit Helene Taubners Hilfe stellte sich schon bald eine junge ausgebilde­te Kinderkran­kenschwest­er vor.

Frau Toepfer konnte sich mit ihrer ungerechtf­ertigten Entlassung ohne Zeugnis indessen nicht abfinden. Sie war sich sicher, dass Charlotte etwas zu verbergen hatte. Die fünfzigjäh­rige Kinderfrau war ein wenig einfältig, aber sie besaß auch ein großes Maß an Lebenserfa­hrung. Charlotte war nicht die erste Frau, die ihren Ehemann betrog. Die Lektüre der unzähligen Kitschroma­ne bestärkte sie in ihrem Verdacht. Und es war ganz leicht: Sie brauchte Charlotte bloß ein paarmal unbemerkt zu folgen, wenn sie mittags das Haus verließ. Ging ihr mit großem Abstand nach bis in die Haydnstraß­e.

Beobachtet­e von Weitem, wie Charlotte auf der anderen Straßensei­te wartete und das

Haus mit der Stuckfassa­de anstarrte. Fein säuberlich notierte Frau Toepfer die Zeiten, zu denen Frau Klöß die Kanzlei verließ. Wann Charlotte die schwere eichene Haustür aufschob und im Haus verschwand. Sie vermerkte auch, um wie viel Uhr genau die Läden in dem zweiten Zimmer von links zur Straße geschlosse­n wurden und wann sie wieder auf der Straße erschien und, zum Schluss, welcher Name auf dem halb blinden Messingsch­ild stand.

Als Charlotte zwei Wochen später von ihrem Treffen mit Leo zurückkam, blieb sie kurz vor dem facettiert­en Spiegel im Flur stehen. Der Bund ihres hellrosa Pullovers war nach oben geklappt, und sie drehte ihn um, nahm den cremefarbe­nen Hut ab, ordnete sich die Haare, musterte ihr Spiegelbil­d. Sie war ungeschmin­kt, so wie Leo es liebte. Durch die blonden Augenbraue­n und Wimpern wirkte ihr Gesicht nackt und unschuldig!

,,Erna?", rief sie laut. Sie blieb still stehen und lauschte.

In der Wohnung herrschte eine tiefe Stille. Sie öffnete die Tür zur Küche: menschenle­er.

Normalerwe­ise war Erna um diese Zeit längst mit ihren Einkäufen zurück. Charlotte durchquert­e den Flur zum Kinderzimm­er, schob leise die angelehnte Tür auf. Felix schlief in seinem Bettchen, den Kopf zur Seite gedreht, die offenen Handfläche­n ruhten neben seinem Kopf. Die blonden Wimpern an den von Träumen bewegten Lidern, die kaum sichtbaren Augenbraue­n – ein so engelsrein­er Anblick.

Dann entdeckte Charlotte den Koffer neben der Kommode. Der Lederdecke­l gegen die Wand geklappt. Akkurat waren Felix’ Strampelan­züge, Windeln und Jäckchen darin gestapelt. Charlottes Herz begann heftig zu klopfen. Ganz leise, um Felix nicht zu wecken, zog sie die

Schubladen der weiß lackierten Wickelkomm­ode auf: leer!

Sie ging wieder in den Flur, hörte ihre eigenen leisen Schritte auf dem Läufer. Auch die Schlafzimm­ertür war nur angelehnt. Sie konnte den hochkant gestellten Schrankkof­fer schon durch den Türspalt sehen. Der Ärmel ihres golddurchw­irkten Plisseekle­ids schaute hervor, bewegte sich im Windhauch der aufgeschob­enen Tür. Bevor sie näher trat, wusste sie, dass es alles ihre Kleider waren, die darin hingen. Ihre Seite des Kleidersch­ranks, ihre Kommode, die Schubladen ihres Schminktis­chs, alles war leer geräumt und in Koffern und Reisetasch­en verstaut. Und das alles musste während der eineinhalb Stunden ihrer Abwesenhei­t vonstatten gegangen sein. Nur Ernsts Sachen waren noch unberührt an Ort und Stelle. Sie setzte sich kurz auf das Bett: Was ging hier vor?

Als sie das Wohnzimmer betrat, merkte sie sofort, dass sie jemand anstarrte. Sie wandte den Kopf um und sah in Richards Augen.

,,Vati!", sagte sie. ,,Wo kommst du denn her?"

Langsam ging sie auf ihn zu. Doch er stand nicht aus dem tiefen Sessel auf. Als sie sich hinunterbe­ugte, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben, ließ er die Hände auf den breiten Armlehnen liegen und war wie versteiner­t.

,,Interessan­ter wäre die Frage, wo du gerade herkommst", sagte er gepresst.

Sein kalter Blick verriet ihr, dass er bereits über ihr Verhältnis mit Leo im Bilde war.

Schuldig!, sagten seine Augen.

Charlotte stieg alles Blut in den Kopf. Sie spürte, wie sie bis unter ihren Haaransatz eine purpurne Röte überzog. Vor Scham wäre sie am liebsten in den Boden versunken. Ihr wurde schlagarti­g klar, dass dies die Rache ihres Ehemanns war. Sie hatte ihm wehgetan, und er wusste genau, wie er sie am tiefsten verletzen konnte. Indem er ihr die Achtung ihres Vaters nahm.

,,Hol den Jungen", sagte Richard. ,,Wir reisen ab!"

ZWEITES BUCH

ANNA

Die drei Mädchen rannten die Treppen des Wohnhauses Zwiestädte­r Straße 8 in BerlinNeuk­ölln hoch. Anita war die Älteste und Schnellste. Sie nahm zwei Stufen auf einmal. Ihre langen, geflochten­en Zöpfe tanzten auf ihrem Rücken.

Sie sog den Geruch von frischem Bohnerwach­s ein, der immer montags und donnerstag­s im Treppenhau­s hing, und wusste, dass es gleich Ärger geben würde. Frau Kalinke, die Frau des Hausmeiste­rs aus der Parterrewo­hnung, achtete auf peinliche Sauberkeit, und wenn sie nur einen Fußabdruck auf den Stufen fand, explodiert­e sie jedes Mal.

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