EU plant ein „Öl-Embargo light“
Was heißt das für Deutschland? – Proteste vor allem aus den östlichen Bundesländern
Brüssel/Berlin – Wochenlang wurde verhandelt, jetzt steht der Kompromiss: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und die übrigen Staats- und Regierungschefs haben sich beim Brüsseler EU-Gipfel wegen des Ukraine-Kriegs auf einen weitgehenden Öl-Boykott gegen Russland geeinigt. Das sei nur ein „Öl-Embargo light“, analysierte die Delmenhorster Energieexpertin Claudia Kemfert. Dennoch wird es tiefgreifende Folgen haben, auch für Millionen Menschen in Deutschland.
■ Der Brüsseler Kompromiss: Tankeröl nein, Pipelineöl ja
Ursprünglich hatte die EUKommission vorgeschlagen, den Import von Rohöl aus Russland binnen sechs Monaten zu beenden. Auf Drängen Ungarns wurde aber festgehalten, vorerst nur russische ÖlLieferungen über den Seeweg zu unterbinden. Transporte per Pipeline sollen zunächst weiter möglich sein. Übergangsfristen und Details fehlen in dem Gipfelbeschluss. Sie dürften in den nächsten Tagen von Diplomaten ausformuliert werden. Mit dem Kompromiss habe „Europa eine Blamage verhindern können“, meinte Kemfert, Fachfrau am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Zudem werde auch das „ÖlEmbargo light“Russland noch empfindlich treffen.
■ deutsche Abhängigkeit von russischem Öl ist gesunken
Für Deutschland sieht die Lage nach diesem EU-Kompromiss so aus: Nach Angaben von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ist der Anteil russischen Öls am deutschen Verbrauch von 35 Prozent vor dem Ukraine-Krieg bereits auf zwölf Prozent gesunken. Tankeröl – vor dem Krieg etwa ein Drittel der Menge – sei ersetzt, sagte er Anfang Mai. Da ändert der EU-Beschluss also nichts. Zwei Drittel der deutschen Ölimporte aus Russland kamen vor dem Krieg aber über die „Druschba“-Pipeline in die großen Raffinerien in Leuna und in Schwedt.
■ Deutschland und Polen verzichten freiwillig auf „Druschba“-Öl
Theoretisch könnten Leuna und Schwedt nach dem EU-Beschluss weiter über die „Druschba“beliefert werden. Doch haben Deutschland und Polen beim EU-Gipfel eine sogenannte Protokollerklärung abgegeben: Sie bekräftigen schriftlich, den Kauf von russischem Öl bis Ende des Jahres zu stoppen. Praktisch gilt die „Pipeline-Ausnahme“also nur für Ungarn, die Slowakei und Tschechien. Nach Angaben von EU-Diplomaten diente die Erklärung auch dazu, den Kompromiss zu erleichtern. Für einige EU-Staaten wäre es vollkommen inakzeptabel gewesen, wenn ein wirtschaftsstarkes Land wie Deutschland weiter von günstigem russischen Öl profitiert hätte.
■ Für Ostdeutschland ist das ein Problem – und es gibt Proteste
Während der Betreiber Totalenergies für die Mitteldeutsche Raffinerie im sachsen-anhaltinischen Leuna bereits den Verzicht auf russisches Öl angekündigt hat, liegt der Fall für die PCK-Raffinerie im brandenburgischen Schwedt mit rund 1200 Beschäftigten anders:
Sie wird von der deutschen Tochter des russischen Staatskonzerns Rosneft mit russischem Öl aus der „Druschba“betrieben.
Habeck sucht für Schwedt nach alternativen Lieferwegen mit Tankeröl über Rostock und Danzig. Doch fürchtet das Land Brandenburg, dass die Raffinerie damit nur zu 60 Prozent ausgelastet wäre. Die Sorge: Die Anlage könnte unwirtschaftlich werden, Jobs könnten verloren gehen. Und die Belieferung der ostdeutschen Tankstellen, Industrie und Heizöltanks könnte ins Stottern geraten.
Habeck hat Lieferungen aus der Ölreserve im Westen und finanzielle Hilfen in Aussicht gestellt, aber die Stadt Schwedt und ostdeutsche Politiker fordern mehr: „Wenn es Ausnahmeregelungen für EUStaaten gibt, sollte auch Ostdeutschland davon Gebrauch machen können“, sagte der Ostbeauftragte der Linksfraktion, Sören Pellmann.
■ Preise dürften steigen, aber die Prognose ist schwierig
Für alle deutschen Verbraucher und die Industrie dürfte auch das „Öl-Embargo light“bei den Kosten durchschlagen. Denn russisches Öl muss auf dem Weltmarkt ersetzt werden, die Nachfrage treibt die Preise. Tatsächlich legten die Rohölpreise am Dienstag deutlich zu. Doch tun sich auch Experten mit Prognosen schwer. „Wie sich die Preise für Rohöl entwickeln, muss man abwarten“, sagte der Düsseldorfer Ökonom Jens Südekum. Die Märkte hätten den jetzt gefundenen EU-Kompromiss wohl schon erwartet. „Ich gehe nicht davon aus, dass es schockartige Preissprünge geben wird“, sagte Südekum.
Der Chef der Internationalen Energieagentur (IEA), Fatih Birol, warnt vor einem Spritmangel in Europa. „Auf den Ölmärkten könnte es im kommenden Sommer eng werden“, sagte er dem „Spiegel“. Wenn die Haupturlaubssaison losgehe, werde die Treibstoffnachfrage steigen. Dann könnte es zu Engpässen kommen.
■ Es kommt gleichzeitig auch Entlastung
Noch schwieriger ist laut Südekum eine Vorhersage zu den Preisen an der Zapfsäule. „Beim Benzinpreis gibt es einen Markt mit vielen Einflussgrößen. Aber wenn meine These zu den Rohölpreisen stimmt, dann dürfte es auch keine Benzinpreissprünge geben oder sie müssten andere Ursachen haben. Vielmehr dürfte nun eigentlich der zum 1. Juni geltende Tankrabatt dominieren, sodass die Preise an der Tankstelle sinken.“
Schwere Kämpfe um Sjewjerodonezk:
Im Osten der Ukraine gehen die Kämpfe um die strategisch wichtige Stadt Sjewjerodonezk in die entscheidende Phase. In der früheren Großstadt mit einst 100 000 Einwohnern rückten die russischen Truppen am Dienstag immer weiter vor. Falls sie fällt, wäre dies ein wichtiger Erfolg für Moskau. Die Angriffe bezwecken offenbar, den letzten von der Ukraine gehaltenen Ballungsraum in der Region Luhansk abzuschneiden und die dort stationierten Truppen aufzureiben.
Südossetien sagt Russland-Referendum ab:
Die von Georgien abtrünnige Teilrepublik Südossetien im Kaukasus hat ein geplantes Referendum zum Beitritt zu Russland vorläufig abgesagt. In einem Dekret vom Montagabend wurde die Absage begründet mit der „Unzulässigkeit einer einseitigen Entscheidung über ein Referendum zu Fragen, die auch die legitimen Rechte und Interessen der Russischen Föderation betreffen“. Moskau hatte sich zuletzt zurückhaltend bei dem Thema gezeigt.
Frankreich ermittelt nach Tod von Kriegsreporter:
Nach dem Tod eines französischen Kriegsreporters in der Ukraine ermittelt die Anti-Terror-Staatsanwaltschaft wegen möglicher Kriegsverbrechen. Die Untersuchung wurde unter anderem wegen vorsätzlichen Angriffs auf das Leben einer durch das Völkerrecht geschützten Person aufgenommen, berichtete die französische Nachrichtenagentur AFP. Der TV-Journalist Frédéric Leclerc-Imhoff war am Montag bei Sjewjerodonezk in der Ostukraine ums Leben gekommen, als er eine humanitäre Evakuierung begleitete. Der 32-Jährige wurde von einem Bombensplitter getroffen.