Wie 100 Tage Krieg die Welt verändert haben
Am 24. Februar marschierten Putins Truppen in die Ukraine ein – Mit massiven Folgen auch hierzulande
Berlin/Kiew – Die Welt wird nie wieder so sein wie vor dem Ukraine-Krieg. An dieser Erkenntnis kann es wohl keinen Zweifel mehr geben. Aber wie die neue Weltordnung nach einem Kriegsende aussehen wird, weiß heute noch niemand so genau. In Politik und Wirtschaft sind die Veränderungen, die der Krieg mit sich bringt, deutlich spürbar – auch ganz konkret im Alltag.
■ Zeitenwende in der deutschen Außenpolitik
Mit seiner „Zeitenwende“-Rede im Bundestag nur drei Tage nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die deutsche Außenund Sicherheitspolitik auf den Kopf gestellt. Die Bundeswehr wird nun mit einem 100-Milliarden-Euro-Programm saniert, um sie für die Landesund Bündnisverteidigung fit zu machen. Erstmals werden Waffen in einen Krieg gegen eine Atommacht mitten in Europa geschickt.
Den Ankündigungen sind inzwischen Taten gefolgt. Auch wenn es in der Koalition noch kräftig ruckelt, soll an diesem Freitag – dem 100. Kriegstag – die Grundgesetzänderung für das Bundeswehr-Sondervermögen beschlossen werden. Bei den Waffenlieferungen wurde Scholz lange Zögerlichkeit vorgeworfen. Mit seinem Versprechen in der Bundestagsgeneraldebatte am Mittwoch, der Ukraine nun auch Mehrfachraketenwerfer und ein Flugabwehrsystem zu schicken, dürfte die Kritik aber abflauen.
■ Die Welt sortiert sich neu
Die Vereinten Nationen sind in ihrer Haltung zum Krieg gespalten. In der UN-Vollversammlung hatten Anfang März 141 Staaten den Krieg verurteilt. Fünf Länder lehnten
Nach dem Abzug russischer Truppen aus dem Kiewer Vorort Potashnya ist Nila Zelinska in ihre Heimatstadt zurückgekehrt – und musste feststellen, dass ihr Haus in Trümmern liegt. Nur die Puppe ihrer Enkeltochter hat sie noch heil vorgefunden.
die Resolution aber ab, 35 enthielten sich. Unter den Enthaltungen sind die beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Welt, China und Indien. Außerdem Südafrika, das als wichtigstes Partnerland westlicher Staaten in Afrika gilt, und Brasilien, das größte Land Südamerikas. Sie sind mit Russland in der Brics-Staatengruppe verbunden. Dieser steht die G 7 wirtschaftsstarker Demokratien gegenüber.
Die Brics- und G 7-Staaten sitzen in der G 20 an einem Tisch. Wenn im November der nächste Gipfel in diesem Format in Indonesien stattfindet, wird man ein Gefühl dafür bekommen, wohin sich das globale Gefüge bewegt – in Richtung Konfrontation oder doch auf den Weg der Kooperation.
■ Neue Geschlossenheit des Westens
Putin hat eins geschafft, was er auf keinen Fall wollte: Er hat den Westen zusammengeschweißt – zumindest vorübergehend.
Die EU war sich in der Verurteilung des Kriegs und bei der Sanktionierung Russlands zunächst so einig wie selten. Die Nato lief nach Kriegsbeginn mit neuer Bestimmung wieder zu Hochform auf.
Die Geschlossenheit hat aber schon wieder tiefe Risse bekommen. Die Türkei will den Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens nicht einfach so akzeptieren. Und in der EUDiskussion über das Öl-Embargo gegen Russland stellte vor allem Ungarn sich quer.
■ Westen sieht Russland weitgehend isoliert
Seinen am 24. Februar befohlenen Einmarsch in die Ukraine sieht Kremlchef Wladimir Putin auch als einen Krieg mit dem Westen zur Rettung der „russischen Welt“. Erreicht hat er das Gegenteil – die russischsprachige Bevölkerung in der Ukraine wendet sich ab vom großen Nachbarn. Aber auch russische Künstler und Sportler
klagen im Ausland über Ausgrenzung. Athleten sind von internationalen Wettkämpfen ausgeschlossen.
Eine beispiellose Flut an Sanktionen des Westens bringt die russische Wirtschaft in Turbulenzen. 10000 Sanktionen gebe es inzwischen, kein anderes Land der Welt sei so stark mit Strafmaßnahmen belegt wie Russland, heißt es in Moskau. Zu Hunderten nehmen westliche Unternehmen Abschied aus dem Land.
Der Westen sieht Russland auf der internationalen Bühne isoliert. Doch der Machtapparat in Moskau lächelt das weg. Der Westen sei nur ein Teil der Welt, heißt es. Die Rohstoffgroßmacht verweist auf seinen wichtigen Nachbarn China und auf Indien als Verbündeten.
■ Auswirkungen auf die Energieversorgung
Aus Russland kamen vor dem Krieg rund 35 Prozent der deutschen Rohölimporte, etwa
55 Prozent des deutschen Gasverbrauchs und etwa 50 Prozent des deutschen Steinkohleverbrauchs. Mittlerweile sind die Quoten deutlich gesunken. Nach Angaben von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) liegt der Anteil russischen Öls inzwischen bei zwölf Prozent. Beim Gas lag er Mitte April bei 35 Prozent. Bei Steinkohle sank der Anteil bis Anfang Mai auf nur noch acht Prozent.
Ungewöhnlich niedrige Füllstände der Gasspeicher nährten im Winter die Sorge vor einem Gas-Lieferstopp durch den russischen Staatskonzern Gazprom – mit unabsehbaren Folgen für Wirtschaft und Haushalte. Neue Nahrung erhielten die Befürchtungen, als Putin Ende März neue Zahlungsmodalitäten verfügte und ankündigte, dass Lieferungen an „unfreundliche“Länder eingestellt werden. Mittlerweile erhalten Polen, Bulgarien, Finnland, die Niederlande und Dänemark kein Gas mehr aus
Russland, weil sie sich weigerten, in Rubel zu bezahlen.
■ Inflationsrate so hoch wie LANGE nicht mehr
Die Kriegsfolgen auf den internationalen Märkten spürt praktisch jeder Verbraucher im Geldbeutel: Die Inflationsrate ist mit fast acht Prozent so hoch wie seit der Ölkrise in den 1970er Jahren nicht mehr. Nicht nur explodierende Energiepreise sind der Grund. Auch Lebensmittel werden teils sprunghaft teurer, unter anderem weil die „Kornkammer Ukraine“als wichtiger Lieferant von Getreide und Sonnenblumenöl ausfällt.
Noch viel schlimmer könnte es aber Menschen in ärmeren Teilen der Welt treffen. Nachdem Dürren und die Corona-Pandemie bereits viele Nahrungsmittel knapp und teuer werden ließen, fürchten Experten wachsenden Hunger und warnen vor der größten humanitären Krise seit dem Zweiten Weltkrieg.