Nordwest-Zeitung

Wie 100 Tage Krieg die Welt verändert haben

Am 24. Februar marschiert­en Putins Truppen in die Ukraine ein – Mit massiven Folgen auch hierzuland­e

- Von Magdalena Tröndle, Ulf Mauder Und Michael Fischer

Berlin/Kiew – Die Welt wird nie wieder so sein wie vor dem Ukraine-Krieg. An dieser Erkenntnis kann es wohl keinen Zweifel mehr geben. Aber wie die neue Weltordnun­g nach einem Kriegsende aussehen wird, weiß heute noch niemand so genau. In Politik und Wirtschaft sind die Veränderun­gen, die der Krieg mit sich bringt, deutlich spürbar – auch ganz konkret im Alltag.

■ Zeitenwend­e in der deutschen Außenpolit­ik

Mit seiner „Zeitenwend­e“-Rede im Bundestag nur drei Tage nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine hat Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) die deutsche Außenund Sicherheit­spolitik auf den Kopf gestellt. Die Bundeswehr wird nun mit einem 100-Milliarden-Euro-Programm saniert, um sie für die Landesund Bündnisver­teidigung fit zu machen. Erstmals werden Waffen in einen Krieg gegen eine Atommacht mitten in Europa geschickt.

Den Ankündigun­gen sind inzwischen Taten gefolgt. Auch wenn es in der Koalition noch kräftig ruckelt, soll an diesem Freitag – dem 100. Kriegstag – die Grundgeset­zänderung für das Bundeswehr-Sonderverm­ögen beschlosse­n werden. Bei den Waffenlief­erungen wurde Scholz lange Zögerlichk­eit vorgeworfe­n. Mit seinem Verspreche­n in der Bundestags­generaldeb­atte am Mittwoch, der Ukraine nun auch Mehrfachra­ketenwerfe­r und ein Flugabwehr­system zu schicken, dürfte die Kritik aber abflauen.

■ Die Welt sortiert sich neu

Die Vereinten Nationen sind in ihrer Haltung zum Krieg gespalten. In der UN-Vollversam­mlung hatten Anfang März 141 Staaten den Krieg verurteilt. Fünf Länder lehnten

Nach dem Abzug russischer Truppen aus dem Kiewer Vorort Potashnya ist Nila Zelinska in ihre Heimatstad­t zurückgeke­hrt – und musste feststelle­n, dass ihr Haus in Trümmern liegt. Nur die Puppe ihrer Enkeltocht­er hat sie noch heil vorgefunde­n.

die Resolution aber ab, 35 enthielten sich. Unter den Enthaltung­en sind die beiden bevölkerun­gsreichste­n Staaten der Welt, China und Indien. Außerdem Südafrika, das als wichtigste­s Partnerlan­d westlicher Staaten in Afrika gilt, und Brasilien, das größte Land Südamerika­s. Sie sind mit Russland in der Brics-Staatengru­ppe verbunden. Dieser steht die G 7 wirtschaft­sstarker Demokratie­n gegenüber.

Die Brics- und G 7-Staaten sitzen in der G 20 an einem Tisch. Wenn im November der nächste Gipfel in diesem Format in Indonesien stattfinde­t, wird man ein Gefühl dafür bekommen, wohin sich das globale Gefüge bewegt – in Richtung Konfrontat­ion oder doch auf den Weg der Kooperatio­n.

■ Neue Geschlosse­nheit des Westens

Putin hat eins geschafft, was er auf keinen Fall wollte: Er hat den Westen zusammenge­schweißt – zumindest vorübergeh­end.

Die EU war sich in der Verurteilu­ng des Kriegs und bei der Sanktionie­rung Russlands zunächst so einig wie selten. Die Nato lief nach Kriegsbegi­nn mit neuer Bestimmung wieder zu Hochform auf.

Die Geschlosse­nheit hat aber schon wieder tiefe Risse bekommen. Die Türkei will den Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens nicht einfach so akzeptiere­n. Und in der EUDiskussi­on über das Öl-Embargo gegen Russland stellte vor allem Ungarn sich quer.

■ Westen sieht Russland weitgehend isoliert

Seinen am 24. Februar befohlenen Einmarsch in die Ukraine sieht Kremlchef Wladimir Putin auch als einen Krieg mit dem Westen zur Rettung der „russischen Welt“. Erreicht hat er das Gegenteil – die russischsp­rachige Bevölkerun­g in der Ukraine wendet sich ab vom großen Nachbarn. Aber auch russische Künstler und Sportler

klagen im Ausland über Ausgrenzun­g. Athleten sind von internatio­nalen Wettkämpfe­n ausgeschlo­ssen.

Eine beispiello­se Flut an Sanktionen des Westens bringt die russische Wirtschaft in Turbulenze­n. 10000 Sanktionen gebe es inzwischen, kein anderes Land der Welt sei so stark mit Strafmaßna­hmen belegt wie Russland, heißt es in Moskau. Zu Hunderten nehmen westliche Unternehme­n Abschied aus dem Land.

Der Westen sieht Russland auf der internatio­nalen Bühne isoliert. Doch der Machtappar­at in Moskau lächelt das weg. Der Westen sei nur ein Teil der Welt, heißt es. Die Rohstoffgr­oßmacht verweist auf seinen wichtigen Nachbarn China und auf Indien als Verbündete­n.

■ Auswirkung­en auf die Energiever­sorgung

Aus Russland kamen vor dem Krieg rund 35 Prozent der deutschen Rohölimpor­te, etwa

55 Prozent des deutschen Gasverbrau­chs und etwa 50 Prozent des deutschen Steinkohle­verbrauchs. Mittlerwei­le sind die Quoten deutlich gesunken. Nach Angaben von Wirtschaft­sminister Robert Habeck (Grüne) liegt der Anteil russischen Öls inzwischen bei zwölf Prozent. Beim Gas lag er Mitte April bei 35 Prozent. Bei Steinkohle sank der Anteil bis Anfang Mai auf nur noch acht Prozent.

Ungewöhnli­ch niedrige Füllstände der Gasspeiche­r nährten im Winter die Sorge vor einem Gas-Lieferstop­p durch den russischen Staatskonz­ern Gazprom – mit unabsehbar­en Folgen für Wirtschaft und Haushalte. Neue Nahrung erhielten die Befürchtun­gen, als Putin Ende März neue Zahlungsmo­dalitäten verfügte und ankündigte, dass Lieferunge­n an „unfreundli­che“Länder eingestell­t werden. Mittlerwei­le erhalten Polen, Bulgarien, Finnland, die Niederland­e und Dänemark kein Gas mehr aus

Russland, weil sie sich weigerten, in Rubel zu bezahlen.

■ Inflations­rate so hoch wie LANGE nicht mehr

Die Kriegsfolg­en auf den internatio­nalen Märkten spürt praktisch jeder Verbrauche­r im Geldbeutel: Die Inflations­rate ist mit fast acht Prozent so hoch wie seit der Ölkrise in den 1970er Jahren nicht mehr. Nicht nur explodiere­nde Energiepre­ise sind der Grund. Auch Lebensmitt­el werden teils sprunghaft teurer, unter anderem weil die „Kornkammer Ukraine“als wichtiger Lieferant von Getreide und Sonnenblum­enöl ausfällt.

Noch viel schlimmer könnte es aber Menschen in ärmeren Teilen der Welt treffen. Nachdem Dürren und die Corona-Pandemie bereits viele Nahrungsmi­ttel knapp und teuer werden ließen, fürchten Experten wachsenden Hunger und warnen vor der größten humanitäre­n Krise seit dem Zweiten Weltkrieg.

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AP-BILD: Pisarenko

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