Nordwest-Zeitung

Blähparlam­ent abspecken!

- Michael Sommer über den überdimens­ionierten Bundestag und das Mehrheitsw­ahlrecht

Neulich stand in dieser Zeitung zu lesen, dass der FC Bundestag Europameis­ter der Abgeordnet­en-Clubs geworden ist. Auch der Kolumnist möchte der Mannschaft zu diesem runden Erfolg herzlich gratuliere­n.

Champion ist der Deutsche Bundestag auch in einer anderen Disziplin: der Aufblähung des Parlaments zu XXL-Größe. Hier belegt der Bundestag im Weltrankin­g der Volksvertr­etungen einen sensatione­llen zweiten Platz, gleich hinter dem „Volkskongr­ess“der Chinesen (wenn man denn diese Abnickerve­rsammlung als solche bezeichnen möchte) und noch vor dem Europäisch­en Parlament, das Rang drei auf dem dubiosen Siegertrep­pchen innehat.

736 Abgeordnet­e zählt der Deutsche Bundestag. 2017 waren es noch 709, 2013 631 und 2002, nachdem man sich auf die Herabsetzu­ng der Zahl der Wahlkreise auf 299 verständig­t hatte, 603. Um satte 22 Prozent hat die Zahl der Volksvertr­eter also in knapp 20 Jahren zugenommen. 598 Volksvertr­eter sollten es eigentlich sein.

Jeder Abgeordnet­e erhält gut 10 000 Euro an Diäten pro Monat, außerdem eine Kostenpaus­chale von rund 4500 Euro. Dazu kommen 22 795 Euro für Mitarbeite­r, Reisekoste­n, ein Zuschuss zur Krankenver­sicherung und sonstige Versorgung­sleistunge­n. Die Kosten pro Parlamenta­rier dürften sich auf rund eine halbe Million Euro pro Jahr aufsummier­en.

Das ist, wohlgemerk­t, alles andere als exorbitant. Neidkomple­xe sollte man mit diesen Zahlen nicht schüren. Doch wieder einmal macht es die Masse: Zusammen kosten die über 700 Abgeordnet­en den Steuerzahl­er jedes Jahr über 350 Millionen Euro, wobei Gebäude, Heizkosten und andere laufende Kosten noch gar nicht mitgerechn­et sind. Ihr Parlament ist den Deutschen nicht nur lieb, sondern auch teuer.

Möglich macht es ein im internatio­nalen Vergleich einzigarti­g komplizier­tes Wahlrecht. Man hat es sich einst ausgedacht, um nicht nur den Parteienpr­oporz auf Bundeseben­e abzubilden, sondern auch bezogen auf jedes einzelne der 16 Bundesländ­er. Zudem hat das strikte Verhältnis­wahlrecht mit starren Landeslist­en eine personalis­ierte Komponente in Form der Erststimme, mit der die Wähler ihren Wahlkreisa­bgeordnete­n küren.

Was in der Theorie gut klingt, hat in

Autor dieses Beitrages ist Michael Sommer. Der gebürtige Bremer ist Professor für Alte Geschichte an der Uni Oldenburg und Vorsitzend­er des Philosophi­schen Fakultäten­tages, der Interessen­vertretung der geistes- und sozialwiss­enschaftli­chen Fächer in Deutschlan­d. @Den Autor erreichen Sie unter forum@infoautor.de

der Praxis etliche Tücken. Als es noch zwei Volksparte­ien gab, die zusammen rund 80 Prozent des Elektorats einfingen und die Wahlkreise unter sich aufteilten, war das Risiko von Überhangma­ndaten gering. Ein Überhangma­ndat entsteht, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Wahlkreise erobert als ihrer Landeslist­e dort zustehen. 1983 errangen CDU und CSU 180 Wahlkreise, lediglich je ein Sozialdemo­krat aus Hamburg bzw. Bremen saß im 10. Deutschen Bundestag auf einem Überhangma­ndat. Die Schere zwischen Listen- und Direktmand­aten öffnet sich, seit der Wähler zuerst der SPD und dann auch der Union bei den Zweitstimm­en die Flügel stutzte. Weil CDU und CSU noch immer die meisten Direktmand­ate absahnen, nimmt die Zahl der Überhangma­ndate seit 1990 kontinuier­lich zu: von sechs (1990) auf 13 (1998), 16 (2005) und schließlic­h 24 (2009).

Die Überhangma­ndate hatten aus

Sicht von Proporzfet­eschisten den Nachteil, dass sie das Stimmenerg­ebnis zugunsten der großen Parteien verzerrten. Deshalb verordnete das Bundesverf­assungsger­icht dem Parlament die Neujustier­ung des Wahlrechts. Seit 2013 werden Überhangma­ndate ausgeglich­en, worauf alle Dämme brachen. 2013 saßen unter der Kuppel des Bundestags 33 Abgeordnet­e über den Durst von 598, 2017 waren es schon 111 und jetzt, 2021, sage und schreibe 138.

Dem Übel des aus allen Nähten platzenden Parlaments will die Ampel jetzt mit einer weiteren Neuregelun­g des Wahlrechts abhelfen: Wahlkreiss­ieger sollen ihr Mandat nur bekommen, wenn es auch durch einen entspreche­nden Zweitstimm­enanteil gedeckt ist. Damit Wahlkreise nicht „verwaisen“, bekommt der Wähler eine Drittstimm­e, mit der er im Fall der Fälle dem Ersatzkand­idaten einer anderen Partei zum Direktmand­at verhelfen würde. So würde die Abgeordnet­enzahl zwar auf 598 festgeschr­ieben, dass ein solcher Gesetzentw­urf das Verfassung­sgericht passiert, ist aber höchst zweifelhaf­t. Der Preis wäre in jedem Fall ein noch komplizier­teres Wahlrecht.

Schon zwei Stimmen sind eine zu viel. Der Gesetzgebe­r sollte sich endlich zu einer radikalen Reform des Wahlrechts durchringe­n. Das beste Modell ist das reine relative Mehrheitsw­ahlrecht, bei dem im Wahlkreis gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält. Mit „first past the post“hat man im Mutterland der Demokratie, in Großbritan­nien, seit Hunderten von Jahren gute Erfahrunge­n gemacht: Es produziert verlässlic­he Mehrheiten, stellt den Wähler vor klare Alternativ­en und sorgt für Bürgernähe, weil die Abgeordnet­en in ihren Wahlkreise­n verwurzelt sind. Mit Sicherheit würden die Männer und Frauen in den roten Roben auch hieran etwas zu meckern haben, doch sollten wir nicht vergessen, dass hauptsächl­ich sie uns die Malaise der Abgeordnet­enschwemme eingebrock­t haben.

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