Blähparlament abspecken!
Neulich stand in dieser Zeitung zu lesen, dass der FC Bundestag Europameister der Abgeordneten-Clubs geworden ist. Auch der Kolumnist möchte der Mannschaft zu diesem runden Erfolg herzlich gratulieren.
Champion ist der Deutsche Bundestag auch in einer anderen Disziplin: der Aufblähung des Parlaments zu XXL-Größe. Hier belegt der Bundestag im Weltranking der Volksvertretungen einen sensationellen zweiten Platz, gleich hinter dem „Volkskongress“der Chinesen (wenn man denn diese Abnickerversammlung als solche bezeichnen möchte) und noch vor dem Europäischen Parlament, das Rang drei auf dem dubiosen Siegertreppchen innehat.
736 Abgeordnete zählt der Deutsche Bundestag. 2017 waren es noch 709, 2013 631 und 2002, nachdem man sich auf die Herabsetzung der Zahl der Wahlkreise auf 299 verständigt hatte, 603. Um satte 22 Prozent hat die Zahl der Volksvertreter also in knapp 20 Jahren zugenommen. 598 Volksvertreter sollten es eigentlich sein.
Jeder Abgeordnete erhält gut 10 000 Euro an Diäten pro Monat, außerdem eine Kostenpauschale von rund 4500 Euro. Dazu kommen 22 795 Euro für Mitarbeiter, Reisekosten, ein Zuschuss zur Krankenversicherung und sonstige Versorgungsleistungen. Die Kosten pro Parlamentarier dürften sich auf rund eine halbe Million Euro pro Jahr aufsummieren.
Das ist, wohlgemerkt, alles andere als exorbitant. Neidkomplexe sollte man mit diesen Zahlen nicht schüren. Doch wieder einmal macht es die Masse: Zusammen kosten die über 700 Abgeordneten den Steuerzahler jedes Jahr über 350 Millionen Euro, wobei Gebäude, Heizkosten und andere laufende Kosten noch gar nicht mitgerechnet sind. Ihr Parlament ist den Deutschen nicht nur lieb, sondern auch teuer.
Möglich macht es ein im internationalen Vergleich einzigartig kompliziertes Wahlrecht. Man hat es sich einst ausgedacht, um nicht nur den Parteienproporz auf Bundesebene abzubilden, sondern auch bezogen auf jedes einzelne der 16 Bundesländer. Zudem hat das strikte Verhältniswahlrecht mit starren Landeslisten eine personalisierte Komponente in Form der Erststimme, mit der die Wähler ihren Wahlkreisabgeordneten küren.
Was in der Theorie gut klingt, hat in
Autor dieses Beitrages ist Michael Sommer. Der gebürtige Bremer ist Professor für Alte Geschichte an der Uni Oldenburg und Vorsitzender des Philosophischen Fakultätentages, der Interessenvertretung der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer in Deutschland. @Den Autor erreichen Sie unter forum@infoautor.de
der Praxis etliche Tücken. Als es noch zwei Volksparteien gab, die zusammen rund 80 Prozent des Elektorats einfingen und die Wahlkreise unter sich aufteilten, war das Risiko von Überhangmandaten gering. Ein Überhangmandat entsteht, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Wahlkreise erobert als ihrer Landesliste dort zustehen. 1983 errangen CDU und CSU 180 Wahlkreise, lediglich je ein Sozialdemokrat aus Hamburg bzw. Bremen saß im 10. Deutschen Bundestag auf einem Überhangmandat. Die Schere zwischen Listen- und Direktmandaten öffnet sich, seit der Wähler zuerst der SPD und dann auch der Union bei den Zweitstimmen die Flügel stutzte. Weil CDU und CSU noch immer die meisten Direktmandate absahnen, nimmt die Zahl der Überhangmandate seit 1990 kontinuierlich zu: von sechs (1990) auf 13 (1998), 16 (2005) und schließlich 24 (2009).
Die Überhangmandate hatten aus
Sicht von Proporzfeteschisten den Nachteil, dass sie das Stimmenergebnis zugunsten der großen Parteien verzerrten. Deshalb verordnete das Bundesverfassungsgericht dem Parlament die Neujustierung des Wahlrechts. Seit 2013 werden Überhangmandate ausgeglichen, worauf alle Dämme brachen. 2013 saßen unter der Kuppel des Bundestags 33 Abgeordnete über den Durst von 598, 2017 waren es schon 111 und jetzt, 2021, sage und schreibe 138.
Dem Übel des aus allen Nähten platzenden Parlaments will die Ampel jetzt mit einer weiteren Neuregelung des Wahlrechts abhelfen: Wahlkreissieger sollen ihr Mandat nur bekommen, wenn es auch durch einen entsprechenden Zweitstimmenanteil gedeckt ist. Damit Wahlkreise nicht „verwaisen“, bekommt der Wähler eine Drittstimme, mit der er im Fall der Fälle dem Ersatzkandidaten einer anderen Partei zum Direktmandat verhelfen würde. So würde die Abgeordnetenzahl zwar auf 598 festgeschrieben, dass ein solcher Gesetzentwurf das Verfassungsgericht passiert, ist aber höchst zweifelhaft. Der Preis wäre in jedem Fall ein noch komplizierteres Wahlrecht.
Schon zwei Stimmen sind eine zu viel. Der Gesetzgeber sollte sich endlich zu einer radikalen Reform des Wahlrechts durchringen. Das beste Modell ist das reine relative Mehrheitswahlrecht, bei dem im Wahlkreis gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält. Mit „first past the post“hat man im Mutterland der Demokratie, in Großbritannien, seit Hunderten von Jahren gute Erfahrungen gemacht: Es produziert verlässliche Mehrheiten, stellt den Wähler vor klare Alternativen und sorgt für Bürgernähe, weil die Abgeordneten in ihren Wahlkreisen verwurzelt sind. Mit Sicherheit würden die Männer und Frauen in den roten Roben auch hieran etwas zu meckern haben, doch sollten wir nicht vergessen, dass hauptsächlich sie uns die Malaise der Abgeordnetenschwemme eingebrockt haben.