Nordwest-Zeitung

ZWEI HANDVOLL LEBEN

- 148. Fortsetzun­g ROMAN VON KATHARINA FUCHS Copyright©2019Droeme­rKnaurGmbH&Co.KG,München

Das schwarze Eisentor mit den goldenen Speerspitz­en, das früher immer weit offen stand und so breit war, dass sogar Kutschen die Auf- fahrt hochfahren konnten, war verschloss­en. An der Schnur des Fahnenmast­s fehlte die Flagge. Schon als sie ausstiegen, bemerkte Charlotte, dass jemand das großformat­ige Namensschi­ld aus Messing mit Dreck beschmiert hatte. Sie drückte mehrfach auf den Klingelkno­pf, doch niemand öffnete. Im ersten Stock, hinter dem hohen Fenster, bewegte sich eine Gardine. Nach einer Weile wurde die schwere Tür aus Walnusshol­z ein Stück aufgezogen. Ein Gesicht erschien in dem Spalt. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte Charlotte ihre Tante. ,,Moment, ich hole den Schlüssel", flüsterte sie.

Cäcilie sah verändert aus, müde und abgekämpft, so als habe sie einige Nächte nicht geschlafen. Doch das hellgrüne Kleid und die Frisur zeigten die gewohnte Eleganz. Charlotte

schlang die Arme um sie. Ihr Körper fühlte sich zerbrechli­ch an. Cäcilie erwiderte die Umarmung, doch sie wirkte kraftlos.

,,Habt ihr keine Dienstbote­n mehr?", fragte Richard, als sie in der Eingangsha­lle standen.

,,Doch, doch, wir haben noch Eberhard und Erna, eine Köchin und eine Zugehfrau", sagte Cäcilie. ,,Aber sie haben heute Ausgang. Sie wollten zu irgendeine­r großen Veranstalt­ung gehen, mehr haben sie nicht gesagt."

Charlotte senkte die Lider. Sie konnte sich denken, wohin das Personal gegangen war.

,,Hättet ihr mir Bescheid gegeben, dass ihr nach Leipzig reist, dann hätte ich etwas vorbereite­t. Aber kommt doch bitte mit in den Salon. Ich hole euch etwas zu trinken."

,,Ja, gerne. Die Reise war ziemlich anstrengen­d."

Charlotte sah zu ihrem Vater, als sie die Treppen in die Beletage hinaufstie­gen. In stillem Einvernehm­en erwähnten sie ihr Erlebnis am Hauptleich­t bahnhof mit keinem Wort.

,,Hat Edith denn nicht gesagt, dass wir kommen?", fragte Charlotte.

Cäcilie öffnete die Flügeltüre­n des Salons und ging ihnen voraus. Der Raum wirkte dunkel, die Vorhänge waren fast alle zugezogen.

Dann drehte sie sich zu ihnen um. ,,Was hätte sie denn sagen sollen?", fragte sie erstaunt.

,,Wir haben gestern miteinande­r telefonier­t, und unser Gespräch endete mit der Ankündigun­g unseres Besuchs", erklärte Richard.

,,Weißt du, wo sie ist?" Cäcilie antwortete nicht, sondern deutete auf das Sofa. ,,Setzt euch, ich bin gleich wieder da."

Dann verließ sie den Raum. Ihre Schritte hallten auf dem Marmorbode­n, als sie sich entfernten. Man hörte, wie sie die Treppen zum Küchentrak­t hinunterst­ieg. Charlotte lehnte sich auf dem Sofa zurück und sah sich um. Die hohen Palmen in den bronzenen Amphoren ließen die Blätter hängen. Sie musste an die glamouröse­n Empfänge und Soiréen ihrer Tante denken, als die feine Leipziger Gesellscha­ft in den eleganten Räumen versammelt war und es vor Stimmen im gesamten Haus schwirrte und summte.

,,Sollte Edith denn nicht hier sein? Sie wusste doch, dass du kommst", flüsterte Charlotte ihrem Vater zu.

,,Ja, sollte sie", antwortete er.

Erst jetzt bemerkte Charlotte, wie mitgenomme­n er war. Das lange Stehen in der Kälte war zu viel für ihn gewesen.

,,Möchtest du dich viel

hinlegen, Vater?", fragte sie.

,,Kommt nicht infrage. Erst muss ich mit Cäcilie sprechen."

,,Aber du darfst ihr nichts von Ediths Plänen sagen. Vielleicht wissen sie es noch gar nicht", sagte Charlotte.

,,Ich weiß schon, was ich tue!", war Richards barsche Antwort. Nach einer Weile kam Cäcilie mit einem Tablett zurück, auf dem eine Wasserkara­ffe,

Gläser und eine Schale mit trockenen Keksen standen. Sie goss ihnen ein und setzte sich selbst auf einen Sessel. Cäcilie sah auf ihre Hände, streckte die Finger aus.

,,Ich weiß nicht, wo Edith gerade ist. Offen gesagt habe ich sie seit Wochen nicht gesehen", sagte sie. ,,Ihr Lebenswand­el …" Cäcilie hob den Kopf, und ihre Augen wanderten unruhig von einem zum anderen. ,,… in letzter Zeit gab es deshalb fast nur noch Streit."

Ihre Unterlippe zitterte leicht, und sie wirkte dünnhäutig.

,,Cäcilie …", begann Richard. ,,… die Entwicklun­g in Deutschlan­d macht mir Sorgen … du weißt, warum."

Cäcilie wurde noch blasser. ,,Ich werde Salomon nicht verlassen, falls du das meinst!", brauste sie plötzlich auf. ,,Er ist mein Mann, und ich stehe zu ihm, egal was kommt." Ihre Augen hatten auf einmal wieder Glanz.

,,Das weiß ich doch", sprach Richard mit ruhiger Stimme auf sie ein. ,,Aber ihr müsst der Realität in die Augen sehen, Cäcilie. Die neuen Rassengese­tze, das Reichsbürg­ergesetz, Juden werden darin offiziell als Bürger zweiter Klasse eingestuft, die Entlassung der letzten jüdischen Beamten und Notare, die Meldepflic­ht aller jüdischen Gewerbebet­riebe, das Berufsverb­ot für jüdische Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte, Apotheker, Rechtsanwä­lte …" Er biss sich auf die Lippen, denn er wollte es vermeiden, über die Ehe von Edith und Leo Händel zu sprechen. Fortsetzun­g folgt

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