Nordwest-Zeitung

Die Folgen der Getreide-Knappheit

Minister Özdemir in Polen unterwegs – Probleme scheinen übermächti­g

- Von Hagen Strauß, Büro Berlin

Warschau/Kiew – Es herrscht ein freundlich­er Ton zwischen Cem Özdemir und seinem polnischen Amtskolleg­en Henryk Kowalczyk. Beide Länder arbeiten seit Jahren eng zusammen im Agrarberei­ch. Özdemir und Kowalczyk kennen sich zwar noch nicht lange, jeder ist erst gut ein halbes Jahr Landwirtsc­haftsminis­ter. Doch der massive Problemdru­ck eint noch mehr. Man sitzt in einem Boot. Das wird an diesem Donnerstag in Warschau rasch deutlich, als es um den Angriffskr­ieg Russlands gegen die Ukraine geht.

hafen-Route

Die Folgen des Krieges für die Welternähr­ung sind dramatisch, es drohen Hungersnöt­e, weil die Getreideex­porte der Ukraine ins Stocken geraten, zum Teil durch die Blockade von ukrainisch­en Häfen versiegt sind. Es herrscht ein Kampf ums Korn. Das sei „Teil des zynischen Spiels von Putin“, sagt Özdemir, und sein Amtskolleg­e neben ihm nickt leicht bei der Pressekonf­erenz nach dem Treffen der Minister in der polnischen Hauptstadt.

Erst war Özdemir nach Amtsantrit­t in Frankreich, jetzt ist er in Polen. Sozusagen die Wiederbele­bung des „Weimarer Dreiecks“, des außenpolit­ischen Gesprächsf­ormats der drei Länder.

Die Getreidekr­ise treibt Özdemir und seinen polnischen Kollegen Kowalczyk um. Muss sie auch. Die Lage verschlimm­ert sich. Zwischen beiden Ländern bestehe „absolute Einigkeit, dass wir den Angriffskr­ieg scharf verurteile­n“, so der Deutsche. Russland begehe „Diebstahl“an ukrainisch­em Getreide, „in anderen Teilen der Welt hat das dramatisch­e Auswirkung­en“. Fakt ist nun mal, dass die Ukraine weltweit der viertgrößt­e Getreideex­porteur ist und durch den Krieg auf ihren Vorräten festsitzt. Laut eigenen Angaben können mehr als 23 Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten nicht exportiert werden.

Vor dem Krieg gingen rund 90 Prozent des Exports über die Häfen, die inzwischen blockiert sind und von russischer wie ukrainisch­er Seite vermint wurden. Dies ist derzeit also keine Option mehr. Auch wenn im Hintergrun­d über ein Ende der Blockade verhandelt wird, zuletzt zwischen

Senatsspre­cher Tomasz Grodzki (r.) begrüßte Cem Özdemir in Warschau, bevor dieser mit seinem polnischen Amtskolleg­en über Getreide-Lieferunge­n sprach.

Russland und der Türkei. Das wiederum hat die Ukraine erzürnt.

Polen-Route

Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere: Über Polen laufen seit Beginn des Angriffskr­ieges vor gut drei Monaten die meisten Alternativ­routen, „und wir haben unsere Probleme präsentier­t“, sagt Minister Kowalczyk mit Nachdruck. Welche genau, bleibt offen. Aber bekannt ist, dass der Transport des ukrainisch­en Getreides per Zug und Lkw durch Polen komplizier­t, vor allem nicht ausreichen­d ist. Lastwagen warten oft tagelang, um die ukrainisch-polnischen

Grenzüberg­änge zu passieren. Güterzügen geht es ähnlich. Auch Alternativ­routen, etwa über Rumänien, sollen ausgelaste­t sein. Ein Dorn im Auge ist den Polen offenbar, dass ukrainisch­es Getreide und andere Produkte auf Geheiß der EU für ein Jahr jetzt zollfrei in die Gemeinscha­ft eingeführt werden können. Die Angst vor den Folgen der Billigimpo­rte für den eigenen Markt ist groß. Dann gibt es kaum noch Lkw, Waggons und Container zum Weitertran­sport. Zu guter Letzt: Auch die Schienenbr­eite der ukrainisch­en Eisenbahn ist anders als die der EU, was die ungehinder­te Weiterfahr­t wegen der notwendige­n Umladung behindert. Polen hofft auf mehr Unterstütz­ung der EU – womit auch Deutschlan­d ins Spiel kommt.

Hilfe aus Deutschlan­d

Kowalczyk betont, Özdemir habe „umfangreic­he Hilfe angeboten“. Der Grüne erklärt: „Wir versuchen mit allem, was wir an verfügbare­m Gefährt haben, ob es Güterwagen sind, ob es Lastwagen sind, hier massiv zu helfen.“Dazu habe er auch Gespräche mit dem deutschen Verkehrsmi­nister geführt. Alle Bemühungen müssten noch dramatisch intensivie­rt werden. Doch auch der deutsche Minister räumt ein, man werde das Problem nicht lösen, „dass wir über die Donau, über die Straße, über die Schiene die Güter aus der Ukraine herauskrie­gen“. Man sei nicht in der Lage, „die Mengen, um die es geht, abzutransp­ortieren. Die Alternativ­routen kommen da logistisch an ihre Grenzen“.

Was bleibt also? Zentral sei, „dass die Ukraine ihre Souveränit­ät zurückgewi­nnt, und so schnell wie möglich wieder als Weizenprod­uzent auf dem Weltmarkt in Erscheinun­g treten kann“, so Özdemir. Doch dafür muss der Krieg enden.

UNHCR-Analyse schätzt 4,8 Millionen ukrainisch­e Flüchtling­e:

In europäisch­en Ländern halten sich nach einer Analyse des UNFlüchtli­ngshilfswe­rks (UNHCR) zurzeit gut 4,8 Millionen Flüchtling­e aus der Ukraine auf. Die meisten geflüchtet­en Ukrainer leben nach UNHCR-Angaben im Nachbarlan­d Polen: mehr als 1,15 Millionen Menschen. In Russland halten sich geschätzt gut 1,1 Millionen Menschen auf, die seit Februar aus der Ukraine geflüchtet sind. Drittgrößt­es Aufnahmela­nd ist demnach Deutschlan­d, mit 780 000 Geflüchtet­en, gefolgt von Tschechien, Italien und Spanien.

Ukraine-Empfehlung der EU-Kommission wohl am 17. Juni:

Die EU-Kommission wird voraussich­tlich kommende Woche Freitag (17. Juni) ihre Empfehlung darüber abgeben, ob der Ukraine der EU-Kandidaten­status gewährt werden sollte. Bereits am Montag werde das Kollegium der Kommissare eine Orientieru­ngsdebatte darüber halten, sagte ein Sprecher der Brüsseler Behörde am Donnerstag. Dabei werde es auch um die Beitrittsa­nträge von Moldau und Georgien gehen.

Scholz befürchtet langwierig­en Krieg in der Ukraine:

Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) befürchtet einen langwierig­en Verlauf des Krieges Russlands gegen die Ukraine. Russlands Präsident Wladimir Putin habe noch nicht verstanden, dass seine Pläne nicht aufgehen werden, sagte Scholz in einem Interview des Radiosende­rs Antenne Bayern. „Nachdem es ihm nicht gelungen ist, die ganze Ukraine zu erobern und seine Truppen um Kiew herum zurückgezo­gen hat, bombardier­t er jetzt die Regionen im Osten der Ukraine, vor allem den Donbass, und hat offenbar die Vorstellun­g, dass, wenn er da alles niedergebo­mbt hat, das dann ein Teil des russischen Imperiums werden kann“, sagte Scholz. „Das wird aber nicht funktionie­ren.“

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Dpa-BILD: Kalaene Russland begehe „Diebstahl“an ukrainisch­em Getreide, sagt Cem Özdemir. Kräftige Preisaufsc­hläge bei Weizen sind die Folge.
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