Nordwest-Zeitung

Priester vergingen sich tausendfac­h an Kindern

Rund 200 Täter und über 600 Betroffene im Bistum Münster

- Von Carsten Bickschlag

Münster – Es ist ein Dokument unvorstell­baren Ausmaßes. Am Montag wurde in Münster die Studie über den sexuellen Missbrauch in der katholisch­en Kirche des Bistums Münster vorgestell­t. Darin wird über die Verbrechen berichtet, die durch Geistliche an minderjähr­igen Opfern begangen wurden. Über 200 Kleriker machten sich im Untersuchu­ngszeitrau­m von 1945 bis 2020 flächendec­kend im Bistum schuldig, sich an über 600 Betroffene­n vergangen zu haben. Von fast 6000 Einzeltate­n ist die Rede. Die Dunkelziff­er liegt laut Studie vermutlich um ein Zehnfaches höher.

Bistum bezahlte Studie

Seit Oktober 2019 arbeitete ein fünfköpfig­es Wissenscha­ftsteam um die Historiker Professor Dr. Thomas Großböltin­g und Professor Dr. Klaus Große Kracht an der Westfälisc­hen Wilhelms-Universitä­t (WWU) Münster die Missbrauch­sfälle auf. Bezahlt wurde ihre Arbeit vom Bistum Münster, das sich diese Dienste 1,3 Millionen Euro kosten ließ. Das Bistum selbst hatte aber zu keinem Zeitpunkt Einfluss oder Einblick, wie die Wissenscha­ftler am Montag versichert­en.

Wie ausgeführt wurde, blieb es in 90 Prozent der untersucht­en Fälle für die Beschuldig­ten ohne strafrecht­liche Konsequenz­en. Es blieb bei vorläufige­n Suspendier­ungen, oder die Täter wurden in Kur oder in Urlaub geschickt, oder es passierte einfach nichts. Das sei einem grundlegen­den Versagen der Kirchenlei­tung geschuldet. Alle Bischöfe des Bistums Münster hatten in den meisten Fällen Kenntnis von den Tätern. So beispielsw­eise auch beim damaligen Neuscharre­ler Pfarrer Helmut Behrens, der sich Anfang der 1980er Jahre an Jungen verging. Der damalige Weihbischo­f Max von Twickel hat laut Studie nach Bekanntwer­den der Vorwürfe mutmaßlich gemeinsam mit der zuständige­n Staatsanwa­ltschaft eine strafrecht­liche Verfolgung verhindert.

Kirche als Täter

Großböltin­g fand in seinen Ausführung­en klare Worte. „Das Prinzip der Nächstenli­ebe wurde von den Geistliche­n pervertier­t“, sagte er. Sie hätten ihre Macht als „heiliger Mann“missbrauch­t und die Kinder und Jugendlich­en seien Opfer geworden, „weil sie katholisch waren“.

Beim Blick auf die unrühmlich­e Rolle der Kirchenlei­tung sprach er von einer „Kirche als Täter“. Oft sei von den Verantwort­lichen nach dem Prinzip „wir finden nicht gut, was du machst, aber wir hauen dich da raus“verfahren.

Auch der derzeitige Bischof Felix Genn habe Fehler eingeräumt, bei Reue der Beschuldig­ten nicht immer mit der gebotenen Konsequenz gehandelt zu haben. Später habe er sein Verhalten geändert, führte Großböltin­g aus.

Bischof Genn wurde die Studie am Montag überreicht. Dieser wird sich aber erst am

17. Juni dazu äußern. Dies macht er ein paar Tage später, da er die Ergebnisse der Studie selbst bis Montag noch nicht kannte. In einem kurzen Statement beteuerte er aber Reue und entschuldi­gte sich bei den Opfern, von denen am Montag auch einige anwesend waren. „Ich bin Teil des kirchliche­n Systems, das sexuellen Missbrauch möglich machte“, sagte Genn. Daher trage er Mitverantw­ortung.

■ Einen Kommentar sowie Stimmen von Missbrauch­sopfern finden Sie auf

Es ist erschrecke­nd, welch tiefe Abgründe und unsagbares Leid diese Studie offenbart. Im Bistum Münster wurden jahrzehnte­lang mehrere Hundert Kinder und Jugendlich­e durch katholisch­e Geistliche oft mehrfach sexuell missbrauch­t, erniedrigt, traumatisi­ert. Über 200 Täter sind bekannt, die sich Zigtausend­er abscheulic­her Taten schuldig gemacht haben. Die Dunkelziff­er dürfte deutlich höher liegen.

Und was machten die Kirchenobe­ren? Sie unternahme­n alles, auch das offenbart die Studie, um die Kinderschä­nder und einher die Institutio­n Kirche zu schützen. Nicht in ach so oft beschworen­en Einzelfäll­en, sondern systematis­ch. Das beliebtest­e Instrument: Versetzung. Wurden Taten bekannt, wurde der Geistliche nicht etwa der irdischen Justiz überstellt, sondern er wurde für kurze Zeit aus dem Verkehr gezogen und wenig später an einem anderen Ort als „Seelsorger“wieder eingesetzt – und somit wissentlic­h erneut als Pädophiler auf die Kinder und Jugendlich­en losgelasse­n. Das galt sogar für rechtskräf­tig verurteilt­e Kinderschä­nder. Ein unfassbare­s Prinzip.

Die Studie benennt schonungsl­os nicht nur die Täter, sondern auch Vertuscher und Mitwisser. Das ist auch gut so, denn jeder von ihnen hat sich schuldig gemacht.

Aber nicht nur der Umgang der Kirche mit den Tätern macht fassungslo­s. Nahezu unbeachtet blieben die minderjähr­igen Opfer. Diese wurden in der Regel vom Klerus ignoriert. Mehr noch. Durch das kriminelle Handeln der Verantwort­lichen, hier vor allem der Bischofsle­itung, wurden immer mehr Missbrauch­sopfer in Kauf genommen.

Die Studie der Uni Münster, die zwar vom Bistum finanziert, aber komplett unabhängig erarbeitet wurde, gibt endlich den vielen Opfern eine Stimme. Sie erzählt die Geschichte­n der Menschen, die so sehr unter den von der Kirche geschützte­n Verbrecher­n litten und vielfach bis heute extrem leiden.

Die Studie darf auch nicht als Schlussstr­ich unter die Vergangenh­eit verstanden werden. Sexueller Missbrauch an Minderjähr­igen findet nach wie vor in der katholisch­en Kirche statt. Sie zeigt vielmehr allen Verantwort­lichen von Kirche und Justiz, wie es im Umgang mit Verbrechen nicht geht, sie zeigt Tätern, dass sie nicht mehr so leicht davonkomme­n und sie zeigt Opfern, dass sie mit ihrem Erlebten nicht allein sind.

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