Zäsur bei Atomwaffen-Verfügbarkeit
Russland und USA besitzen knapp 90 Prozent aller Sprengköpfe – Friedensforscher warnen
Stockholm – Nach jahrzehntelangem Rückgang könnte die Zahl der Atomwaffen in der Welt nach Schätzung von Friedensforschern bald erstmals wieder ansteigen. Trotz einer leichten Verringerung der globalen Gesamtzahl nuklearer Sprengköpfe auf zuletzt schätzungsweise 12705 rechnet das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri damit, dass diese Zahl im Laufe des kommenden Jahrzehnts wieder zunimmt.
„Es gibt eindeutige Anzeichen dafür, dass die Verringerungen, die die globalen Atomwaffenarsenale seit dem Ende des Kalten Krieges charakterisiert haben, beendet sind“, sagte der Sipri-Experte Hans M. Kristensen. Ohne sofortige und konkrete Abrüstungsschritte der neun Atomwaffenstaaten könnte der globale Bestand nuklearer Waffen bald erstmals seit dem Kalten Krieg wieder größer werden, warnte sein Kollege Matt Korda.
■ USA und Russland Wie aus Sipris am Montag verkistan, öffentlichtem Jahresbericht hervorgeht, verfügen Russland (5977) und die USA (5428) gemeinsam nach wie vor über rund 90 Prozent aller Atomsprengköpfe in der Welt. Bei beiden sei die Zahl 2021 zwar weiter zurückgegangen – dies habe aber vor allem mit der Demontage ausrangierter Sprengköpfe zu tun, von denen sich das Militär schon vor Jahren verabschiedet habe. Die Zahl der Atomwaffen in nutzbaren Militärbeständen der beiden Länder sei dagegen relativ stabil geblieben.
Sowohl in den USA als auch in Russland liefen umfassende und kostspielige Programme, um die Atomsprengköpfe, Trägersysteme und Produktionsstätten auszutauschen und zu modernisieren, schreiben die Friedensforscher.
■ Weitere Staaten
Gleiches gilt für die weiteren Atomwaffenstaaten, zu denen Sipri zufolge Großbritannien, Frankreich, China, Indien, PaIsrael und Nordkorea zählen. Sie alle haben Sipri zufolge neue Waffensysteme entwickelt oder stationiert oder dies zumindest angekündigt. Keines der Länder habe vor, seine Atomwaffen in irgendeiner Weise abzuschaffen, sagte Kristensen. China befinde sich gerade vielmehr mitten in einem umfassenden Ausbau seines Atomwaffenarsenals, Großbritannien habe 2021 angekündigt, die Obergrenze für seinen Gesamtbestand an Sprengköpfen zu erhöhen.
■ Entwicklung
Seit Jahrzehnten ist die weltweite Zahl der Kernwaffen kontinuierlich gesunken. Mittlerweile macht sie nur noch weniger als ein Fünftel von dem aus, was sich zu Hochzeiten des Kalten Krieges in den 1980er Jahren in den Arsenalen der Atommächte befunden hatte. Bereits im Vorjahr hatten Sipri jedoch eine Trendwende hin zu moderneren nuklearen Waffen ausgemacht.
Deutschland besitzt solche Waffen nicht. Die fünf UN-Vetomächte USA, Russland,
Großbritannien, Frankreich und China hatten zu Jahresbeginn beteuert, gegen die weitere Verbreitung von Atomwaffen vorzugehen.
■ Einordnung
Sipri monierte, dass alle fünf Länder ihre Arsenale seitdem weiter ausgebaut oder modernisiert hätten. Russland habe im Zuge seines Angriffskriegs in der Ukraine gar offen mit dem möglichen Gebrauch von Atomwaffen gedroht. „Obwohl es im vergangenen Jahr einige bedeutende Fortschritte sowohl bei der nuklearen Rüstungskontrolle als auch bei der atomaren Abrüstung gegeben hat, scheint das Risiko des Einsatzes von Atomwaffen jetzt höher als zu jedem Zeitpunkt seit dem Höhepunkt des Kalten Krieges“, erklärte Sipri-Direktor Dan Smith.
Die neuen Sipri-Daten beziehen sich auf den Januar 2022. Einen Monat später marschierte Russland in die Ukraine ein. Noch sei es etwas zu früh für Rückschlüsse, wie sich Russlands Angriffskrieg letztlich auf die atomare Lage in der Welt auswirken werde, sagte Kristensen.