Nordwest-Zeitung

Einige Opfer hatten sogar Suizidgeda­nken

Zwei Betroffene waren bei der Präsentati­on der Ergebnisse vor Ort in Münster

- Von Carsten Bickschlag

Neuscharre­l/Münster – Wenn von sexuellem Missbrauch in der katholisch­en Kirche gesprochen wird, dann steht meistens der Täter, also der Priester, im Fokus der Betrachtun­g. Doch was ist eigentlich mit den Opfern, die unter den Geistliche­n zu leiden hatten? Im Bistum Münster sind über 600 Betroffene bekannt, die zwischen 1945 und 2020 Opfer sexualisie­rter Gewalt von Klerikern wurden. Das geht aus der Studie „Macht und sexueller Missbrauch in der katholisch­en Kirche. Betroffene, Beschuldig­te und Vertuscher im Bistum Münster seit 1945“hervor, die am Montag im Schloss von Münster der Öffentlich­keit vorgestell­t wurde.

Tausende Übergriffe

Tausende Übergriffe mussten die Mädchen und Jungen im gesamten Gebiet des Bistums erleiden. Die Dunkelziff­er, und das machten die Wissenscha­ftler der Uni Münster, die die Studie in dreijährig­er Arbeit erstellten, liegt um ein Vielfaches höher. Sie errechnete­n, dass im Untersuchu­ngszeitrau­m allein im Bistum Münster jeden Tag zwei Kinder sexuell missbrauch­t wurden. Die Opfer würden unter Schuldgefü­hlen und Angststöru­ngen leiden, einige Betroffene hätten sogar Suizidgeda­nken geäußert, berichten die Wissenscha­ftler, die über 60 Interviews mit Opfern führten.

Zwei der über 600 Betroffene­n kommen gebürtig aus Neuscharre­l (Ortsteil von Friesoythe, Landkreis Cloppenbur­g) und waren am Montag bei der Präsentati­on der Studie vor Ort. Beide Männer, heute 51 und 56 Jahre alt, wurden in jungen Jahren von Pfarrer

Unter großer medialer Beachtung nahmen stellvertr­etend für alle Opfer (von links) Bernd Theilmann aus Oldenburg und Sara Weise aus Recklingha­usen am Montag in Münster die Studie aus den Händen der Wissenscha­ftler entgegen.

Helmut Behrens Anfang der 1980er Jahre missbrauch­t. Behrens, der laut Studie auch als „Grabbelpas­tor“bekannt war, wurde von der Kirche für kurze Zeit aus dem Verkehr gezogen, nachdem ein Vater eines Opfers mit Anzeige drohte. Später wurde er wieder als Seelsorger eingesetzt. Laut Studie wusste in diesem Fall vermutlich auch die Staatsanwa­ltschaft Bescheid, unternahm

aber nichts. Konsequenz­en für den Täter: keine. Die Causa Behrens ist eine von zwölf Fallstudie­n, die von den Wissenscha­ftlern aus Münster näher betrachtet wurden.

„Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen“, sagte der 51-Jährige im Gespräch mit unserer Redaktion. Die Vergangenh­eit habe ihn im Vorfeld der Präsentati­on der Studie immer wieder eingeholt.

„Das beschäftig­t einen sehr. Das sind ja alles wahre Geschichte­n und alle wussten Bescheid.“Er hoffe, dass es auch nach der Studie nachhaltig weitergehe, denn: „Es gibt bestimmt noch mehr Opfer.“

„Für mich schockiere­nd“

Als Meilenstei­n bezeichnet der 56-Jährige die Missbrauch­sstudie. Er selbst hat im

Beirat an dieser mitgewirkt. „Mir geht es jetzt viel besser. Auf dieses Buch habe ich drei Jahre lang gewartet“, sagte er kurz nach der Vorstellun­g der Studie. Erstaunlic­h und schockiere­nd sei für ihn, dass allen Bischöfen – Michael Keller (1947-1961), Joseph Höffner (1962-1969), Heinrich Tenhumberg (1969-1979), Reinhard Lettmann (1980-2008) und mit Abstrichen auch Felix Genn (seit 2009) – schwerste Vorwürfe zu machen seien, etwa Strafverei­telung, Vertuschun­g und Missachtun­g von Betroffene­n.

Auch die jeweiligen Bistumslei­tungen kommen in der Studie nicht gut weg. Es sei zwar eine strukturel­le Verbesseru­ng erkennbar. Diese sei aber eher durch den Druck der Betroffene­n, der Medien und der Öffentlich­keit erzwungen worden. In der Bewertung heißt es: „Die Kirche wurde den Opfern nicht gerecht.“

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BILD: C. Bickschlag

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