Schandfleck im Club
Will man eine Lektion über politische Heuchelei und Doppelstandards erhalten, dann muss man sich an die Nato wenden. Die ist Partei im Krieg gegen einen aggressiven, imperial handelnden Angreifer, nämlich Russland. Sie lädt diesen Krieg als epischen Kampf gegen das schwärzeste Böse moralisch bis zum Anschlag auf – beschwichtigt und duldet solches jedoch in den eigenen Reihen. Gemeint ist die Türkei unter dem Vierteldemokraten Recep Tayyip Erdogan.
Dessen Sündenregister ist mindestens ebenso lang wie das Wladimir Putins, seine Hände ebenso blutig und seine Pläne ebenso aggressiv. Seit Jahr und Tag besetzt die Türkei weite Teile eines fremden Landes, Syriens nämlich. Die Nato duldet das. Putin macht nichts anderes. Seit Jahr und Tag begeht die türkische Regierung nichts weniger als einen politischen, kulturellen und physischen Genozid an vermeintlich eigenen Staatsbürgern – den Kurden. Die Nato duldet das. Mit Genozid-Vorwürfen gegen Russland ist man dagegen im Westen schnell bei der Hand. Seit Jahr und Tag verweigert die türkische Regierung dem größten Volk ohne eigenen Staat – eben den Kurden – Staatlichkeit. Die Nato duldet das. Wenn aber die Ukraine Staatlichkeit verdient – warum dann nicht Kurdistan? Seit Jahr und Tag rasselt Erdogan im östlichen Mittelmeer mit dem Säbel, formuliert Gebietsansprüche an Griechenland. Die Nato duldet das. Ähnliche Rhetorik war von Wladimir Putin vor dem Ukrainekrieg zu hören. Man hat ihm nicht geglaubt. Das war ein schwerer Fehler. Seit 1974 besetzt die Türkei einen Teil des Territoriums des EU-Mitglieds Zypern. Die Nato duldet das. Die Abspaltung der Krim und des Donbass hingegen kritisierte Brüssel immer lautstark.
Doch die Nato duldet nicht nur. Sie leistet der türkischen Erpresser- und Drohpolitik sogar Vorschub. Generalsekretär Jens Stoltenberg äußert Verständnis für die türkische Blockade des schwedischen und finnischen Beitritts. Diese Länder wagen es, politische Sympathien für kurdische Belange nicht nur verbal zu äußern. Stoltenberg brachte es zudem nicht über sich, das aggressive Gebaren der Ex-Kolonialmacht Türkei gegen das bis 1829 von ihr geknechtete Griechenland zu rügen. So ermutigt man Despoten. Das ist keine Realpolitik.
Nun mag man sagen, die Türkei sei an der Südostflanke der Nato unverzichtbar. Das kann man so sehen. Dann sollte man aber nicht so tun, als sei sie ein Club moralisch blütenweißer Chorknaben, der die Rechtschaffenheit gepachtet hat.
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