Flüchtlingskinder: Verloren, verraten, vergessen!?
Heiko Kauffmann schreibt zum 30. Jahrestag der UN-Kinderrechtskonvention / Er ist Mitglied in der National Coalition zur Umsetzung der Konvention
Die Verabschiedung der Kinderrechtskonvention am 20. November 1989 durch die Vereinten Nationen wurde von der Politik als ,Meilenstein‘ in der Entwicklung des Völkerrechts und als ,Sternstunde‘ für die Menschenrechte gefeiert. Erstmals wurden Kindern und Jugendlichen grundlegende und umfassende Rechte garantiert. Zu den zentralen Bestimmungen der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) gehören das absolute Diskriminierungsverbot (Art. 2)und der Vorrang des ‚Kindeswohls‘ (Art. 3). Artikel 22 verpflichtet die Vertragsstaaten, flüchtlingsschutzsuchenden Kindern die Einreise und den Aufenthalt zu gestatten und sie wie einheimische (deutsche) Kinder zu behandeln.
Die damalige Bundesregierung hatte jedoch – vor dem Hintergrund einer beispiellos aufgeheizten Asyldebatte im Vorfeld der Änderung des Artikels 16 GG 1993 – bei der Ratifizierung eine Vorbehaltsklausel hinterlegt, die das Asyl- und Ausländerrecht über die Konvention stellte. Fortan – bis zur Rücknahme der Vorbehalte im Sommer 2010 – bestimmten nicht das ‚Kindeswohl‘ und die Ziele der UN-KRK den rechtlichen und behördlichen Umgang Deutschlands mit Flüchtlingskindern, sondern: eingeschränkte Rechte, reduzierte Leistungen, ein unsicherer Aufenthaltsstatus, mangelnde Förderung und verweigerte Bildungsmöglichkeiten.
In der kurzen Phase der ‚Willkommenskultur‘ 2015 durchgeführte Änderungen des Aufenthaltsund Asylgesetzes zur Verfahrensfähigkeit und umfangreiche Erweiterungen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ließen kurzfristig auf eine grundlegende Verbesserung hoffen. Doch schon ab Herbst 2015 – vor dem Hintergrund zunehmender rassistischer Vorfälle und eines gesellschaftlich atmosphärischen Rechtsrucks in Teilen der Bevölkerung – versäumte es die Bundesregierung, sich deutlich auf die Seite der Verfechter einer offenen und solidarischen Gesellschaft zu stellen.
Stattdessen hat die Große Koalition mit einem ‚repressiven Rollback‘ an Gesetzesverschärfungen (Asylpakete I und II bis zum ‚Geordnete-Rückkehr-Gesetz‘) ,Ängste‘ und Ressentiments sogenannter ‚besorgter Bürger‘ bedient und damit organisierten Rechtspopulisten noch Auftrieb gegeben.
Insgesamt können einzelne Verbesserungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Rechte und Bedürfnisse dieser besonders schutzbedürftigen Gruppe von Kindern und Jugendlichen in Deutschland noch immer massiv vernachlässigt werden. Nach wie vor leben viele geflüchtete Kinder und Jugendliche in aufenthaltsrechtlich unsicherer Situation. Beim Zugang zu Schutz und Hilfe und bei der Wahrnehmung ihrer Rechte nach der UNKRK sind erhebliche rechtliche und tatsächliche Verschärfungen zu ver
zeichnen. Auch 30 Jahre nach der Verabschiedung der UN-KRK besteht ein großer Handlungsbedarf für ihre umfassende Umsetzung in Deutschland.
Eine noch größere Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Menschenrechte für Kinder besteht in der oft tödlichen Abwehr und systematischen Ignoranz der EU-Regierungen gegenüber den Schicksalen tausender Flüchtlingskinder am Rande und an den Außengrenzen Europas. In der Hoffnung auf ein besseres und friedliches Leben machten sich seit Beginn dieses Jahrhunderts auch Hunderttausende von Flüchtlingskindern auf den Weg nach Europa. Sie flohen vor Krieg, Gewalt, Terror und Armut. Tausende kamen bei dem Versuch, hier ein Leben in Sicherheit führen zu können, ums Leben. Sie ertranken im Mittelmeer, verdursteten in der Wüste, erstickten in Lastwagen und Containern, erfroren beim Überqueren von Gebirgspässen oder eisigen Grenzflüssen im Winter; sie starben in den Triebwerken von Flugzeugen oder an den Strapazen der Flucht; sie starben in Gefangenschaft, in den grausamsten Lagern Libyens; sie wurden Opfer von
Ausbeutung, Folter, Misshandlung und Krankheiten. Tausende leben in überfüllten Flüchtlingslagern unter unmenschlichen Bedingungen, ohne Schutz und Perspektive. Diese Kinder sind die Flüchtlingskinder Europas, für die Europa Verantwortung trägt. Sie sind die Opfer unverantwortlicher ‚Deals‘ mit nationalistischen Autokraten; Opfer der Unterstützung von Warlords und kriminellen Milizen durch die EU: Opfer einer verfehlten deutschen und europäischen Flüchtlings- und Kinderschutzpolitik. Diese Politik straft den Anspruch der EU als eine ,Wertegemeinschaft‘ Lügen. Die europäische Kinderflüchtlingsschutz-Politik stellt sich heute als brutales System der Verhinderung der Inanspruchnahme des Asylrechts und von Schutz und Hilfe dar.
Im Umgang mit der schwächsten und schutzbedürftigsten Gruppe von Flüchtlingen, den Flüchtlingskindern, zeigen zivilisierte Staaten, wie wenig zivilisiert sie wirklich sind: Solange noch Kinder auf der Suche nach Schutz im Mittelmeer und auf dem Weg nach Europa sterben oder in überfüllten Lagern verelenden, solange sind der Humanitätsanspruch Deutschlands und Europas und ihre vielbeschworenen Werte Menschenwürde, Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gänzlich infrage gestellt.
Mehr denn je ist es Sache der Zivilgesellschaft, zu verhindern, dass die ,Sternstunde‘ der Kinderrechte als ,Sternschnuppe‘ verglüht.
Heiko Kauffmann ist Mitgründer und langjähriger Sprecher von Pro Asyl, zudem Träger des Aachener Friedenspreises 2001