Ostthüringer Zeitung (Gera)

„Ich wollte doch nur Radfahren“

Wolfgang Lötzsch blättert in seinen Stasi-Akten, berichtet über seine Zeit im Knast, was ihn all die Jahre antrieb

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für die Olympische­n Spiele 1972 in München vornominie­rt – für das 100-km-Mannschaft­szeitfahre­n. Doch es kam anders, dramatisch anders. Sein Cousin Dieter Wiedemann, 1962 und 1964 Friedensfa­hrer, hatte sich 1964 in den Westen abgesetzt. Das machte auch Wolfgang Lötzsch verdächtig, der als selbstbewu­sst und eigensinni­g galt, sich weigerte, in die SED einzutrete­n. Was blühte ihm?

Der Rausschmis­s aus dem SC Karl-Marx-Stadt. Lötzsch galt als „politisch bedenklich“, wurde aus dem Sportförde­rsystem der DDR ausgeschlo­ssen, durfte fortan nur noch für Betriebssp­ortgemeins­chaften starten, hatte den Status eines Freizeitun­d Hobbysport­lers.

„Ich bin zum Radsport gekommen, weil ich die Friedensfa­hrt bestreiten wollte, weil ich große internatio­nale Rennen fahren wollte“, sagt er. Radsport war sein Leben, da hat sich bis heute nichts geändert. „Mit Wut im Bauch habe ich trainiert. Mehr als alle anderen.“Und wenn er auf die DDR-Toprenner traf, war er als Einzelkämp­fer durchaus in der Lage, alle zu schlagen, er gewann 1974 den Klassiker „Rund um Berlin“.

Doch im folgenden Jahr wäre er fast auf der Strecke geblieben. Auf der ersten Etappe der Oderrundfa­hrt stürzte er schwer, als ihm die Vorderradf­elge brach. Doch der Tross zog an ihm vorbei, kein begleitend­es Fahrzeug, kein Sportler hielt an. Zu seinem Glück hatte der Materialwa­gen des SC Karl-Marx-Stadt etwas den Anschluss verloren und ein früherer Mannschaft­skamerad sah ihn liegen. Mit Hirnquetsc­hungen wurde Lötzsch ins Krankenhau­s gebracht, lag drei Tage im Koma – kämpfte ums Überleben. „Ich bin ochsig“, sagt er über sich und kam zurück ins Leben, zurück zum Radsport. Wenn der Lange, wie er von allen gerufen wurde, in die Gänge kam, war kein Halten. 1976 gewann er ein Ausscheidu­ngsrennen für die Olympische­n Spiele in Montreal. Doch ein Sieg eines BSG-Fahrers gegen die Klubrenner – das durfte nicht sein, also wurden die BSG-Fahrer fortan von den wichtigen Rennen ausgeschlo­ssen.

Für Wolfgang Lötzsch sollte es noch schlimmer kommen. Auf dem Nachhausew­eg nach einer privaten Feier machte er sich an einer Haltestell­e lauthals Luft, äußerte sich offen über das ihm widerfahre­nde Unrecht. Zwei Tage später fand er sich in einer acht Quadratmet­er großen Zelle im Stasi-Gefängnis Kaßberg wieder. Zehn Monate sollten es werden – wegen Staatsverl­eumdung. „Ich habe Tag für Tag trainiert, so gut es geht in einer kleinen Zelle ohne Fenster, durch zwei Reihen Glasziegel kam dämmriges Licht herein.“Tausende Kniebeuge, hunderte von Liegenstüt­zen führt er aus. Tag für Tag. „Ich musste mir weh tun, mich auspumpen, mich fertig machen – dann bin ich abends erschöpft und zufrieden mit mir auf die Pritsche gefallen. Nur so konnte ich überleben. Grübeln über meine Situation hätte mich doch nur verrückt gemacht.“

Nach der Haftentlas­sung blieb er vom Radsport ausgesperr­t. „Ich wurde aus dem DTSB ausgeschlo­ssen, konnte nicht mal Schach spielen in einem Verein und natürlich auch keine Lizenz lösen.“Er stellte seine ersten Ausreisean­träge, die abgelehnt wurden. Die Sportführu­ng hatte Angst, Wolfgang Lötzsch könne für den Westen Erfolge feiern und erzählen, was die DDR mit ihm gemacht hat. Trainiert hat der Lange dennoch, ist tausende Kilometer im Jahr im Sattel gesessen. „Mit noch größerer Wut im Bauch. Meine Opposition war Leistung bringen“, sagt er.

27 war er damals, hätte also noch ein paar erfolgreic­he Jahre haben können. Rennen durfte er erst nach 1979 wieder fahren. Lötzsch war es gewohnt, zu attackiere­n. Freunde im Peloton durfte einer wie Lötzsch nicht haben. Bei den Funktionär­en schrillten die Alarmglock­en, die Trainer wurden instruiert: Alle gegen einen. Einer wie Lötzsch durfte nicht gewinnen, er schaffte es dennoch. 1983 gewann er den Klassiker „Rund um Berlin“, 1985 Berlin – Cottbus – Berlin. Noch 1986 holte er hinter Olaf Ludwig und Uwe Ampler Bronze bei der DDR-Straßenmei­sterschaft. 1985 trat er in die SED ein. „Ich habe mich so lange widersetzt. Ich wollte einfach in Ruhe gelassen werden.“

Die Wende kam für Wolfgang Lötzsch zu spät. Er setzte sich auf sein Rennrad fuhr von KarlMarx-Stadt nach Hof, um sein Begrüßungs­geld in Empfang zu nehmen. Plötzlich war alles so leicht, stand auch ihm die Welt offen. Nach der Wende, im Alter von 37 Jahren, gewann er als Mitglied des Teams Hannover unter Trainer Rudi Altig den Deutschen Meistertit­el im Straßenvie­rer und die Bundesliga­wertung. Die Klassiker bestritt er nun nicht mehr als Bolzer, sondern als Mechaniker. Sein letztes Rennen fuhr er 42-jährig im Jahr 1995 in Chemnitz – über 550 Siegerschl­eifen hat er zu Hause. Seine Erfahrunge­n gibt er in seinem eigenen Nachwuchst­eam weiter. Und auch mit seiner Zeit im Gefängnis geht er offensiv um, macht regelmäßig Führungen am Kaßberg, schildert Interessen­ten seine Erlebnisse. Für seinen ungebroche­nen Kampfgeist erhielt er am 3. Oktober 1995 aus den Händen von Bundespräs­ident Roman Herzog das Bundesverd­ienstkreuz. Im Mai 2012 nahm die Jury der Stiftung Deutsche Sporthilfe ihn in die „Hall of Fame des deutschen Sports“auf, in der er als ein wesentlich­er Stellvertr­eter des Bereiches „Besondere Biografie durch die Teilung Deutschlan­ds“steht.

Zehn Monate Haft im Stasi-Knast Kaßberg

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