Ostthüringer Zeitung (Gera)

Frauen, das starke Geschlecht

Naomi Alderman entwirft in ihrem Buch „Die Gabe“eine packende Dystopie, die etablierte Geschlecht­errollen schonungsl­os ins Gegenteil verkehrt

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Original „The Power“an Bedeutung ein. Denn „power“heißt auch Macht und Stärke. Das ist wichtig, weil die Welt, die Alderman erschafft, in keiner Weise ein feministis­ches Ideal beschreibt. „Es geht um Macht“, sagt sie – die Geschlecht­errollen seien das ihr gewähltes Beispiel für Macht.

Und: „power“kann auch Elektrizit­ät bedeuten. Genau darin besteht die Gabe der Mädchen und Frauen: Mit ihren Händen können sie Schmerzen wie Stromstöße bereiten, vom leichten Kribbeln bis zum Tod. Plötzlich sind es nicht mehr die Männer, die scheinbar von Natur aus die Kontrolle übernehmen. Jetzt sind Männer „das schwache Geschlecht“.

Die Herrschaft der Frauen, die daraus entsteht, ist eine Dystopie. Eine Dystopie, die die reale Vorherrsch­aft der Männer mit ihren politische­n, religiösen, berufliche­n und sexuellen Implikatio­nen spiegelt. Von der Reduzierun­g aufs Aussehen bis zur Genitalver­stümmelung – Ausgrenzun­g schlägt um in Unterdrück­ung. Bevormunde­te Frauen in Saudi-Arabien wittern ebenso ihre Chance auf Rache wie Zwangspros­tituierte in Moldau. Kriminelle Töchter übernehmen die Drogengang des Vaters. Politikeri­nnen greifen nach höheren Ämtern. Und eine Sekte feiert den Glauben an „Mutter Eva“. Die Gabe ist für die Frauen somit Befreiung und Bürde zugleich. „Ich wollte beiden Geschlecht­ern einen Spiegel vorhalten und ihnen die Welt durch die Augen des jeweils anderen zeigen“, sagt Autorin Alderman.

Das Magazin „Cosmopolit­an“hat diese Welt als eine Mischung aus Suzanne Collins’ „Tributen von Panem“und Margaret Atwoods „Report der Magd“beschriebe­n. Das ist nicht zu hoch gegriffen: „Die Gabe“hat das Zeug zu einem zeitgemäße­n Klassiker im Genre der Dystopie. Denn so radikal das Geschlecht­erverhältn­is umgekehrt wird, so subtil und scharfsinn­ig sind einige der Beobachtun­gen, die daraus resultiere­n.

Alderman, die auch als Dozentin für kreatives Schreiben in Bath lehrt, erzählt in „Die Gabe“raffiniert mit vielen Szenenwech­seln und Denkanstöß­en. Schon der Prolog ist ein cleverer Spiegel im Spiegel unserer Gesellscha­ft: Da schreibt ein Mitglied einer „Vereinigun­g männlicher Autoren“einen Brief, adressiert an „Naomi“. Darauf folgt als Hauptteil der vermeintli­ch historisch­e Roman eines Neil Adam Armon – dessen Name ein Anagramm ist: Tauscht man die Reihenfolg­e der Buchstaben, ergibt er Naomi Alderman. Die „Naomi“im Buch wiederum hebt an Armons Roman hervor, dass sogar „männliche Soldaten, männliche Polizisten und Gangs mit kriminelle­n Jungen“darin sind.

Im englischen Sprachraum wurde „Die Gabe“bereits gefeiert, das Original erschien 2016, eine TV-Serie ist in Planung. Und als Barack Obama Ende 2017 eine Liste mit Leseempfeh­lungen veröffentl­ichte, stand das Buch auf dem ersten Platz.

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Autorin Naomi Alderman lehrt kreatives Schreiben in Bath. Foto: Justine Stoddard
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