Europa vor dem Schicksalsjahr
Brexit, Europawahl, Wechsel in Spitzenämtern, Aufstieg der Populisten – kann die Gemeinschaft die Herausforderungen meistern?
anderen EU-Regierungschefs entgegenkommen und den Scheidungsvertrag ändern oder ergänzen – vor allem in der Frage, wie Grenzkontrollen auf der irischen Insel verhindert werden können. Im Januar könnte ein EU-Sondergipfel noch Zugeständnisse beschließen. Zu groß ist auch auf dem Kontinent die Furcht vor einem wilden Brexit. Der wäre „eine Katastrophe“, warnt die deutsche Industrie. Es drohen: Chaos an den Grenzen wegen plötzlicher Zollkontrollen, die Einstellung des Flugverkehrs, Turbulenzen an den Finanzmärkten – die Risiken für die EU wären immens. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker warnt: Erschütterungen für die Bürger und die Wirtschaft in Europa werde es auf jeden Fall geben.
Wahlen zum EU-Parlament: Am 26. Mai wird ein neues EU-Parlament gewählt. Durch den Austritt Großbritanniens wird es von 751 auf 705 Abgeordnete schrumpfen. Zugleich dürften auch die beiden großen Volkspartei-Fraktionen, die christdemokratische EVP und die sozialdemokratische S&D, Federn lassen. Andererseits dürften Rechtspopulisten und Nationalisten – von Marine Le Pens Bewegung in Frankreich bis zur italienischen Lega – einen Aufschwung erleben. Nach aktuellen Projektionen können diese Kräfte bis zu 30 Prozent der Sitze erobern, im Extremfall sogar stärkste Kraft werden. Der italienische Lega-Chef Matteo Salvini oder der frühere Trump-Wahlkampfmanager Steve Bannon träumen von einer Allianz rechtsnationaler Kräfte, die die EU von innen aus den Angeln heben soll. Die Kontrolle über das Parlament werden die Rechtspopulisten kaum übernehmen – doch könnten sie mit EU-Gegnern der radikalen Linken nahe an eine Blockademehrheit kommen, die die Gesetzgebung massiv behindern würde. Die etablierten Parteien sprechen bereits von einer „Schicksalswahl“.
Nationale Wahlen: Für die EU steht auch bei den Parlamentswahlen in einigen Mitgliedstaaten einiges auf dem Spiel: In Belgien, Finnland, Dänemark und Estland wählen die Bürger in der ersten Jahreshälfte, in Griechenland, Polen und Portugal in der zweiten. Auch hier zeichnen sich neue Erfolge von Rechtspopulisten ab – ihre Beteiligung an nationalen Regierungen dürfte wachsen. Das könnte eine Einigung der EUMitgliedstaaten bei wichtigen Fragen erschweren. Die italienische Regierung zeigt, wie eine Blockadehaltung die EU-Politik lähmen kann.
Spitzenpositionen: Ist das EU-Parlament gewählt, beginnt ein Personalpoker um die Spitzenpositionen. Bei der Nachfolge von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat der EVP-Spitzenkandidat zur Europawahl, CSU-Vize Manfred Weber, die besten Karten. Er wäre der erste Deutsche in dem mächtigen Amt seit über 50 Jahren. Webers EVP wird voraussichtlich wieder stärkste
Kraft. Doch der Kommissionspräsident ist nur Teil eines großen Personalpakets. Vakant werden der Posten des EURatspräsidenten, für den der niederländische Premier Mark Rutte im Gespräch ist und auch Kanzlerin Angela Merkel, sowie der Chefsessel der Europäischen Zentralbank. Auch die Riege der 27 EU-Kommissare wird nach der Wahl des Kommissionspräsidenten neu besetzt – Länder wie Polen und Ungarn werden wohl EU-kritischere Politiker nach Brüssel entsenden. Die Kommission dürfte schwerer zu steuern sein.
Flüchtlingspolitik: Für sachpolitische Entscheidungen ist diese Gemengelage pures Gift. Viele dringende Aufgaben dürften 2019 wohl liegen bleiben – vor allem die immer wieder verschobene Reform des europäischen Asylsystems, mit der sich die EU für Flüchtlingskrisen wappnen wollte. Auch die
Reform der Eurozone als Krisenvorsorge und die
Einigung auf das nächste Sieben-Jahres-Budget dürften
2019 nicht abgeschlossen werden.