Buchhaltung eines Erotomanen
Jetzt sind die erstmals umfassend gedruckt vorliegenden Tagebüchern Lion Feuchtwangers von bis erschienen
letzten Sekretärin in den USA gefunden worden waren und in einer nur schwer zu entziffernden Kurzschrift verfasst sind. Der Autor von Bestsellern wie „Jud Süß“, „Erfolg“und „Exil“notierte nur skizzenhaft Ereignisse und Begegnungen, oft nur Namen und Schauplätze und Alltagsgeschehen bis hin zu eigentlich schützenswerten privatesten Dingen.
Das hat Thomas Mann mit seinen umfangreichen Tagebüchern zwar auch in aller Ausführlichkeit getan, aber doch immer ergänzt von ausführlichen Darlegungen, Betrachtungen, Überlegungen zu eigenen Arbeiten und Bewertungen der jeweiligen Zeitereignisse und Begegnungen, was bei Feuchtwanger weitgehend fehlt. Deswegen waren seine Tagebücher, die im Vorwort der jetzigen Ausgabe großspurig als „Feuchtwanger ohne Filter“präsentiert werden, auch nicht zur Veröffentlichung gedacht – zu recht.
So reduzieren sich die täglichen Notate Feuchtwangers neben banalen Alltagsabläufen oft zur buchhalterischen Niederschrift seiner Spielsucht oder Sexbesessenheit. Im Vorwort des Buches spricht Klaus Modick von einer „immer befremdlicher anmutenden Buchhaltung eines zwanghaften Erotomanen“. Feuchtwangers schriftstellerische Arbeiten spielen leider meist ebenso eine Nebenrolle wie die spektakulären Zeitereignisse wie die Novemberrevolution von 1918. Am Ende der Weimarer Republik sieht es für Feuchtwanger nach eigenen Worten „nicht gut aus“. Auf Hiddensee notiert er Ende Juni 1932 lapidar: „Gebadet. Spazierengegangen. Gevögelt.“
Die ordinäre Vokabel ist in Feuchtwangers Stichwort-Tagebuch nahezu eine Standardvokabel, die so häufig vorkommt, dass sich die Herausgeber veranlasst sahen, einen Großteil davon nicht zu übernehmen. „Von rund 750 erwähnten ‚gevögelt‘ finden rund 100 Aufnahme, von rund 600 ,gehurt‘ 40“, heißt es dazu in der editorischen Notiz. Als im Mai 1940 Feuchtwanger im Exil lebte und die deutsche Wehrmacht in Frankreich einmarschierte, heißt es: „Abends im Rundfunk, alle Deutschen“(in Frankreich) auch die Frauen, müssten wieder ins Konzentrationslager. Marta gevögelt.“Gemeint waren Internierungslager für Ausländer.
Ebenso stichwortartig sind leider auch Feuchtwangers Begegnungen und teilweise auch Zusammenarbeiten mit Kollegen festgehalten wie Bertolt Brecht oder Heinrich Mann.
Die Einschätzungen Feuchtwangers über die Nazis und die Kriegsgefahr schwanken zwischen düsteren und durchaus realistischen Vorahnungen und kurzzeitig naiven Blickwinkeln. Seine Stalin-freundliche Haltung wird sogar dazu führen, dass ihm die USA, wohin Feuchtwanger nach langem Zögern in letzter Minute fliehen kann und wo er ab 1941 in Los Angeles lebte, die Staatsbürgerschaft verwehrten. Er starb am im Dezember 1958 als Staatenloser.