Hinter der Idylle steckt noch mehr
Zwei Weimarer Autoren porträtieren für ein literarisch-fotografisches Projekt die zehn kleinsten derzeit noch selbstständigen Dörfer Thüringens
zwei Tage nahmen sich die Autoren Zeit, um die Dörfer und ihre Bewohner kennenzulernen, das Besondere zu entdecken und zu erspüren, wie es sich so lebt, wenn es zum Beispiel keine Ablenkung in Gestalt von Geschäften, Kinos und Kneipen gibt und auch keine Anonymität, dafür aber oft großen Gemeinschaftssinn.
Die Bürgermeister zu überzeugen, sei nicht immer leicht, haben die beiden Reisenden erfahren. Mitunter ist die Skepsis gegenüber den Städtern und ihrem Ansinnen sehr groß. „Das hat dann oft was von einem Vorstellungsgespräch“, sagt Yvonne Andrä. Und nicht immer hatten sie und Stefan Petermann bei ihren Anfragen bislang Erfolg. Aber bei denen, die sie überzeugen konnten, lief es dann meist ganz unkompliziert: „Die Bürgermeister zeigen uns ihren Ort, stellen uns ihre Nachbarn vor – und oft dauert es keine fünf Minuten, und wir sitzen bei den Leuten im Wohnzimmer“, erzählt Stefan Petermann. Die meisten erzählten dann ganz bereitwillig aus ihrem Leben und auch davon, wer im Dorf mit wem gut kann und mit wem nicht. „Binnen einer halben Stunde weiß man alles“, sagt Stefan Petermann. Yvonne Andrä und Stefan Petermann waren aber auch schon bei einem Feuerwehrwettkampf dabei und beim Feierabendbier im Ort.
Beide notieren fleißig mit, jedes Mal kehren sie mit einer Unmenge von Eindrücken, dichtbeschriebenen Kladden und tausenden Fotos heim. Yvonne Andrä verfasst schließlich kurze, pointierte Texte, während Stefan Petermann Dorfporträts schreibt. Dem voraus geht der Gedankenaustausch über das Erlebte und Gehörte. Liegen die Texte erst vor, lesen die beiden Autoren sie gegenseitig Korrektur, ehe sie sie mitsamt wunderbarer Fotos auf der eigens erstellten Homepage veröffentlichen.
Wie eine Imagebroschüre für Thüringen liest sich das nicht. Und auch wenn sich die Dörfer fast alle herausgeputzt haben und es zum Erstaunen des Autorenteams nur wenige Leerstände gibt, eignen sich die Texte kaum für Wohlfühlmagazine, die oft ein einseitiges Bild vom Landleben zeichnen und das Postkartenidyll beschwören.
„Im Grunde ist es so, dass wir Dinosauriern beim Sterben zusehen“, sagt Yvonne Andrä. Denn die wenigsten kleinen Orte könnten sich auf Dauer ihre Eigenständigkeit leisten. Ganz besonders schlecht dran seien paradoxerweise jene Dörfer, in denen Kinder geboren werden. Denn die Finanzierung der Kindergartenbetreuung – ob im eigenen Ort oder in der Nachbargemeinde – sei für die Gemeinden, die so gut wie keine Gewerbesteuereinnahmen haben, geradezu ruinös. Trotzdem scheuten sich viele kleine Dörfer vor dem Zusammenschluss mit Nachbarorten. „Jetzt kauft der Bürgermeister einfach einen Eimer Farbe, wenn der Spielplatz frisch gestrichen werden muss“, erklärt Yvonne Andrä. Nach der Fusion sei so etwas viel komplizierter: Dann müsse man erst drei Angebote einholen und das günstigste nehmen, ganz zu schweigen davon, dass die Gemeinde sich erst einmal Gehör verschaffen müsse, wenn sie nur noch ein Ortsteil von mehreren in einer Gemeinde ist.
Das, glauben die Weimarer Autoren, geht zu Lasten des Ehrenamts und der Bereitschaft, sich uneigennützig in die Gemeinschaft einzubringen. „Wir hätten vorher nicht gedacht, dass das Ganze so hochpolitisch ist. Hinter der Idylle steckt eben noch viel mehr“, sagt Yvonne Andrä. Dabei: Beide träten nicht als Journalisten in Erscheinung, sie seien Künstler und Literaten und ihr Blick auf die kleinen Dörfer daher ein sehr subjektiver. Ihre Texte und Fotos veröffentlichen die beiden Autoren auf der eigens eingerichteten Homepage „Jenseits der Perlenkette“, und das möglichst zeitnah nach ihren Besuchen.
Das Echo sei in der Regel sehr positiv, es gab sogar Tränen der Rührung. Schon nach ihren Stippvisiten sind die Weimarer oft mit Umarmungen verabschiedet worden, in Scheiditz wurden sie eigens mit Ortstypischem bekocht. „Das ist ein sehr beglückendes Projekt“, fasst Yvonne Andrä ihre Eindrücke zusammen. Erst jetzt wisse sie beispielsweise, „wie unglaublich schön es im Eichsfeld ist“.
Im kommenden Jahr wollen Yvonne Andrä und Stefan Petermann erneut in die Orte fahren, die sie seit April besucht haben, und ihre Texte lesen. Außerdem hat ein Verlag Interesse an einem Bildband signalisiert. Das literarisch-fotografische Projekt, das auch von der Kulturstiftung Thüringen und der Thüringer Staatskanzlei gefördert wird, dürfte auch für Thüringen-Kenner ein ziemlich spannendes sein. Denn wer weiß schon, dass in Eichstruth jeder zehnte Einwohner ein Zwilling ist? Dass in Kühdorf gleich mehrere Pferdezüchter leben und an allen Ecken und Enden dem Pferd gehuldigt wird? Oder dass die Männer in Asbach-Sickenberg Pullerschnaps herunterkippen, wenn wieder ein Kind im Dorf geboren wurde?
Kurze, pointierte Texte und längere Porträts Sehr subjektiver Blick auf die Gemeinden