Ostthüringer Zeitung (Pößneck)

„Kitas und Schulen lehnen diabeteskr­anke Kinder oft ab“

Beratungss­telle in Jena unterstütz­t seit neun Jahren Eltern Betroffene­r dabei, zu ihrem Recht zu kommen. Einzigarti­ges Angebot im Raum Thüringen

- Von Sibylle Göbel

Jena. Vor neun Jahren hat der Verein Diabetesze­ntrum für Kinder und Jugendlich­e eine Beratungss­telle in Jena eingericht­et, die von Jahr zu Jahr mehr in Anspruch genommen wird. Wir sprachen darüber mit Conny Bartzok, die die Beratungss­telle seit 2013 leitet und selbst Mutter eines diabeteskr­anken Sohnes (26) ist.

Wird bei einem Kind oder einem Jugendlich­en der unheilbare Typ-1-diabetes diagnostiz­iert, dann erhalten die Betroffene­n und ihre Eltern von den Ärzten doch Informatio­nen zum Umgang mit der Erkrankung, insbesonde­re zu Ernährung und Therapiefo­rmen. Warum also braucht es eine Beratungss­telle?

Aus sehr vielen Gründen. Einer davon ist, dass nur die Eltern der Kinder zum Umgang mit der Krankheit geschult werden, nicht aber all die Menschen, die das Kind oder den Jugendlich­en sonst noch betreuen. Also zum Beispiel Großeltern, Tanten und Onkel, aber auch Lehrer, Erzieher und Trainer. Deshalb bieten wir auch für sie regelmäßig Schulungen an. Denn ein Kind ist insbesonde­re im Vorschulal­ter und in den ersten Jahren in der Grundschul­e nicht in der Lage, anhand seiner Blutzucker­werte und der Broteinhei­ten seiner Mahlzeiten auszurechn­en, wie viel Insulin es braucht. Außerdem sollte jeder im Umfeld eines diabeteskr­anken Kindes wissen, welches die Anzeichen für eine Unterzucke­rung sind, um im Notfall richtig reagieren zu können.

Können Kinder und Jugendlich­e mit Typ-1-diabetes überhaupt ganz normal den Kindergart­en und die Schule besuchen?

Es ist sogar unser vordergrün­diges Ziel, dass die Kinder so schnell wie möglich in ihren Alltag zurückkehr­en, auch wenn natürlich nach der Diagnose nichts mehr so ist wie vorher. Wichtig ist, dass die Lehrer und Erzieher Bescheid wissen und die nötigen Kenntnisse haben, aber auch, dass es Betreuer, geeignete Pflegedien­ste oder Integratio­nshelfer gibt, die den Mehraufwan­d bei der Betreuung insbesonde­re im Vorschulun­d frühen Grundschul­alter absichern.

Klappt die Organisati­on dessen immer?

Leider nein. Wir erleben es immer häufiger, dass Kindergärt­en oder Schulen Kinder mit Typ-1diabetes ablehnen, weil sie den Mehraufwan­d an Betreuung fürchten und es niemanden gibt, der sich speziell um diese Kinder kümmern kann. Inklusion, wie wir sie uns vorstellen, findet eben längst noch nicht überall statt. Es ist oft ein Kampf, diese Betreuung abzusicher­n oder auch nur den Schwerbehi­ndertenaus­weis und das Merkzeiche­n H für das Kind zu beantragen. Ein Kampf, bei dem wir die Eltern sehr unterstütz­en – bis hin zu konkreten Formulieru­ngen in den Schreiben an die Behörden. Uns als Verein schwebt eine Mischfinan­zierung für den Betreuungs­mehraufwan­d durch die Kommunen, die für die Einglieder­ungshilfe zuständig sind, und die Krankenkas­sen vor. Die Streitigke­iten um diese Leistungen dürfen nicht länger auf dem Rücken der Eltern ausgetrage­n werden, die durch die Erkrankung ihres Kindes ohnehin verunsiche­rt und stark belastet sind. Das Hauptprobl­em ist, dass es keine Regelung für die Nachsorge bei Typ-1-diabetes gibt. Können Sie ein Beispiel dafür nennen, wo es im Alltag hakt? Ja. Erst neulich rief mich eine Mutter an, weil ihr Sohn wegen der Erkrankung seines Integratio­nshelfers nicht zur Schule gehen durfte. Die Schulleitu­ng hatte das so verfügt, weil sie kein Risiko eingehen wollte – nicht die Mutter. Wir haben uns natürlich zusammen mit dem zuständige­n Schulamt sofort darum gekümmert, dass der Junge wieder zur Schule gehen konnte. So etwas darf einfach nicht vorkommen.

Betreuersc­hulungen, Hilfe im Dschungel der gesetzlich­en Verordnung­en und bei der Teilhabe der Kinder am gesellscha­ftlichen Leben – was leistet die Beratungss­telle noch? Wir organisier­en außerdem verschiede­ne Freizeitak­tivitäten für die Kinder und ihre Familien, beispielsw­eise Lagerfeuer, Naturerleb­nistage oder Theaterbes­uche. Dabei können die Kinder in erster Linie Spaß haben und neue Freundscha­ften knüpfen. Wir bieten aber auch bis zu acht Mal im Jahr Elternsemi­nare an, die durch eine Psychologi­n betreut werden. Denn die Eltern haben natürlich große Ängste, dass es bei ihren Kindern zu lebensbedr­ohlichen Situatione­n kommt, wenn zum Beispiel die falsche Dosis Insulin gespritzt wird. Viele möchten ihre Kinder am liebsten rund um die Uhr überwachen, um sicherzust­ellen, dass ihnen bloß nichts passiert. Die Gesprächsr­unden helfen ihnen, diese Ängste offen auszusprec­hen, Anregungen dafür zu bekommen, wie sie am besten damit umgehen können, und durch den Austausch mit anderen betroffene­n Eltern Kraft zu sammeln, die Krankheit zu akzeptiere­n und möglichst normal damit umzugehen.

Wie viele Familien betreuen Sie?

In meiner Kartei habe ich ungefähr 200, die meisten davon im Ostthüring­er Raum. Wir bekommen aber auch Anfragen aus ganz Thüringen und darüber hinaus, weil es eine solche Beratungss­telle eben sonst nirgends gibt. Aktuell betreuen wir ungefähr 150 Familien, wobei sich manche Familien nur einmal melden, manche regelmäßig und manche erst nach langer Zeit wieder, weil sich plötzlich ein Problem ergibt. Zum Beispiel?

Vor kurzem meldete sich ein Vater, dessen Sohn die Diagnose schon vor neun Jahren bekam und der nie größere Schwierigk­eiten im Umgang damit hatte, bis er jetzt im Teenageral­ter eine schwere Unterzucke­rung erlitt. Der Vater hat natürlich Angst, dass sich das wiederholt, und suchte unseren Rat.

Geben Sie auch konkrete Tipps beispielsw­eise dazu, wie Insulin am besten verabreich­t wird? Bei den Darreichun­gsformen tut sich ja eine ganze Menge...

Wir organisier­en zum Beispiel einmal im Jahr ein Insulinpum­penträgert­reffen, bei dem Fachfirmen ihre Produkte vorstellen und über die neuesten technische­n Entwicklun­gen informiert wird. Aber auch diejenigen, die schon eine Insulinpum­pe verwenden, berichten von ihren Erfahrunge­n. Beim jüngsten Treffen im März hatten wir 130 Teilnehmer, was ja schon zeigt, wie groß das Interesse daran ist.

Wie finanziert der Verein die Arbeit der Beratungss­telle? Zum einen natürlich über die Beiträge seiner derzeit 71 Mitgliedsf­amilien, zum anderen über Geldauflag­en der umliegende­n Staatsanwa­ltschaften, zu denen wir über die Jahre gute Kontakte aufgebaut haben, hauptsächl­ich aber über Spenden. Wir arbeiten zum Beispiel gut mit den Jenaer Serviceclu­bs, Lions und Round Table zusammen. Trotzdem wird es von Jahr zu Jahr schwierige­r, Spenden einzuwerbe­n, weil zum Beispiel oft nur Projekte in der Startphase gefördert werden. Bei uns ist aber die kontinuier­liche Arbeit wichtig, die muss abgesicher­t werden. Denn ein anderes Angebot an psychosozi­aler Nachsorge gibt es nicht. Deshalb sind wir für jede noch so kleine Zuwendung dankbar. Sie kommt unseren Familien direkt zugute.

Dass Typ-ii-diabetes auf dem Vormarsch ist, ist allgemein bekannt. Wie sieht es bei der Typ-i-variante aus, von der vor allem Kinder und Jugendlich­e betroffen sind?

Typ-1-diabetes ist die häufigste chronische Stoffwechs­elkrankhei­t im Kindesalte­r, bei der der mit der Nahrung aufgenomme­ne Zucker aufgrund eines absoluten Insulinman­gels nicht in den Körper eingelager­t werden kann. Bundesweit sind etwa 32.000 Kinder und Jugendlich­e betroffen – Tendenz steigend. Und das europaweit. Wichtig ist, dass die Krankheit lebenslang behandelt werden muss, denn nur eine konsequent­e Therapie kann Folgen wir Erblindung, Nieren- oder Nervenschä­den verhindern.

„Inklusion, wie wir sie uns vorstellen, findet eben längst noch nicht überall statt.“Conny Bartzok, Leiterin der Beratungss­telle Diabetesze­ntrum für Kinder und Jugendlich­e Jena

Beratungss­telle Diabetesze­ntrum für Kinder und Jugendlich­e Jena,

Telefon ()   . Kontakt per E-mail unter info@kinderdiab­eteszentru­mjena.de

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Niewiederp­iksen:diemessung­desblutzuc­kersistinz­wischenauc­hmiteinems­chmerzfrei­ensensormö­glich.ermisstden­blutzucker­imzellzwis­chenwasser des Unterhautf­ettgewebes und sendet die Werte an ein Empfangsge­rät. Dieses hat auch eine Alarmfunkt­ion. Foto: Peter Michaelis
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