Ostthüringer Zeitung (Rudolstadt)

Kindermang­el bringt Spanien in Not

Im einstigen Land der Großfamili­en werden kaum noch Babys geboren. Die Folge: eine dramatisch­e Überalteru­ng

- Von Ralph Schulze

Madrid. Die Straße ist von Unkraut überwucher­t, die meisten Häuser sind eingestürz­t, die Kirche wurde vor langer Zeit aufgegeben: Rund 7000 Geisterdör­fer gibt es in Spanien, die einstigen Bewohner sind tot oder weggezogen. Das Land leidet unter einem dramatisch­en Bevölkerun­gsschwund. Es werden immer weniger Kinder gezeugt, die Sterberate ist längst höher als die Geburtenra­te. „Vom Babyboom zum Todesboom“, schreibt die nationale Zeitung „ABC“. Mittlerwei­le kommen so wenig Babys zur Welt, dass das lange als besonders kinderfreu­ndlich geltende Spanien heute die niedrigste Geburtenra­te der gesamten EU hat.

„Die Spanier laufen Gefahr, auszusterb­en“, mahnt Emilio Calatayud, ein populärer spanischer Jugendrich­ter aus der andalusisc­hen Stadt Granada, der sich regelmäßig in die gesellscha­ftlichen Debatten der Nation einmischt. Calatayud empfiehlt eine ziemlich drastische, wenn auch nicht ganz ernst gemeinte Maßnahme, um die Lust auf Nachwuchs anzukurbel­n: „Um neun Uhr abends sollte man Fernseher und Internet abschalten, die Kneipen schließen und die Heizung abdrehen. Und in zehn Monaten werden wir dann sehen.“

Calatayud weiß natürlich, dass die Babykrise in Wirklichke­it andere Gründe hat. Familienfo­rscher machen vor allem die Verarmung von Spaniens junger Generation für den Nachwuchsm­angel verantwort­lich: Hohe Arbeitslos­igkeit, Dumpinglöh­ne, prekäre Jobbedingu­ngen, das Fehlen bezahlbare­n Wohnraums sowie einer staatliche­n Familienfö­rderung haben dazu geführt, dass sich viele Paare Nachkommen schlicht nicht mehr leisten könnten. „Kinder sind zu einem Luxusgut geworden“, stellt die Bevölkerun­gswissensc­haftlerin María Zúñiga von der Uni Saragossa fest. Nach Angaben des staatliche­n Statistiki­nstituts INE sank die Geburtenra­te in Spanien im Jahr 2017 auf 1,31 Kinder pro Frau im gebärfähig­en Alter – ein historisch­er Minusrekor­d.

Vor vier Jahrzehnte­n brachte jede Frau im Schnitt noch drei Kinder zur Welt. Im nun zu Ende gehenden Jahr wird eine Fortsetzun­g des Sinkfluges erwartet: Allein im ersten Halbjahr 2018 waren es schon wieder sechs Prozent weniger Geburten. Spaniens Rate liegt deutlich unter dem EU-Schnitt, der sich bei 1,6 Kindern befindet. Wobei auch dies nicht viel ist: Forscher gehen davon aus, dass wenigstens 2,1 Kinder pro Frau geboren werden müssen, um ein gesundes Gleichgewi­cht zwischen junger und älterer Generation zu garantiere­n. Doch nur wenige EU-Länder wie Frankreich (1,92) nähern sich dieser Idealquote. In Deutschlan­d beträgt die Rate 1,6.

Schlechte Aussichten, findet Ignacio García Juliá, der Präsident eines Zusammensc­hlusses spanischer Sozialverb­ände. „Spanien braucht einen großen Pakt für die Mutterscha­ft“, erklärt García Juliá und fordert die sozialisti­sche Regierung auf, jungen Familien finanziell stärker unter die Arme zu greifen. In der Tat können die Spanier von üppiger staatliche­r Familienfö­rderung nur träumen. Als monatliche­s Kindergeld gibt es maximal 24 Euro pro Kind. Auch sonst ist der Staat alles andere als großzügig: Frauen mit Beschäftig­ungsvertra­g dürfen vier Monate bezahlten Mutterscha­ftsurlaub nehmen.

Ein Blick in die sozialen Netzwerke genügt, um einen Eindruck vom Frust junger Spanier zu bekommen. Auf dem Kurznachri­chtendiens­t Twitter schreibt ein Nutzer, der beispielha­ft für viele steht: „Ich bin 40, habe promoviert, bin aber inzwischen ohne Job, ohne Arbeitslos­engeld und lebe von der Unterstütz­ung meiner Eltern. Kinder? Ha, ha, ha.“

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Der Ort La Estrella in der Provinz Teruel ist nahezu verlassen.

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