Ostthüringer Zeitung (Rudolstadt)
Wir Bade-Gurus von Graal-Müritz
Ich habe den Weg mehrfach ausgeschritten, gedanklich, aber auch zu Fuß mit warmen Winterschuhen: Es sind von der Hoteltür bis an die Wasserkante links der Graal-Müritzer Seebrücke schlappe 150 Meter. Bisher galt immer: Wenn ich an der Ostsee bin, muss ich auch ins Wasser.
Doch heute sind es sechs Grad Lufttemperatur, die Wasserkälte wird nicht angezeigt. Jogger mit Schal und Pudelmütze trotten vorbei. Am Fast-FoodStand dampfen die Glühweinkessel.
So ist das jeden Morgen. Wir lassen beim Frühstück den Blick aus dem Hotelfenster über die Düne schweifen und fragen uns: Heute? Oder lieber morgen?
Nein, heute nicht. Wir sind doch gerade erst angekommen und haben einen langen Strandspaziergang geplant. Für den Abend ist ein Tisch in einer Dierhagener Schenke bestellt.
Dann vielleicht heute?
Nein, heute wollen wir auf den Darß und zum Leuchtturm am Weststrand. Dort zwicken die Winde so frostig, dass ich mich frage, wie lange man es als Schiffbrüchiger in den eiskalten Fluten aushalten kann.
Nun, dann also heute. Heute ist unser letzter Tag, und der „Klabautermann“– eine urige Fischkneipe, die wir unbedingt noch besuchen wollen – zählt als Ausrede nicht.
Heute gilt’s. Komisches Gefühl, am ersten Weihnachtstag zur Rushhour im Bademantel zur Seebrücke zu laufen. Zum Glück wird es schon dunkel. Hundert Meter Kopfsteinpflaster, dann dreißig Meter glattes Holz. Schnell die Treppe runter, Latschen aus und barfuß durch den feuchten Sand. Noch fünfzehn Meter bis ans Wasser. Hunderte Blicke folgen uns. Smartphones werden gezückt. Jetzt bloß nicht stolpern. Bademantel fallen lassen und mit langen, schnellen Schritten gegen die Wellen. Die Kälte schnappt nach den Füßen.
Verdammt. Die Ostsee ist nicht nur arschkalt, sondern auch flach. Man muss weit hinaus, um untertauchen zu können. K. ist schon drin. Ich lasse mich der Länge nach fallen, und die Welle schwappt über mich hinweg. Halleluja! Blitzlichtgewitter von der Brücke.
Dann: Nichts als raus! Fünfzehn Meter wie auf Messern bis ans Ufer. Zwanzig Meter bis zur Treppe. Die Menge teilt sich vor uns, als wären wir Heilige. Der Wind bläht unsere Bademäntel, nur nicht die Bodenhaftung verlieren. „Woher kommen Sie? Machen Sie das jeden Tag?“Statt einer Antwort murmele ich: „Wie warm die Steine sind.“Worauf auch K. ihre Badelatschen wieder auszieht und die letzten Meter mit mir barfuß zum Hotel tappt.
Zugegeben, dieser Text ist ein bisschen angeberisch. Aber auch der letzte in diesem Jahr. Übrigens, was die Leute nicht wissen konnten: Wir kamen aus der Sauna...
Guten Rutsch allerseits!