Ostthüringer Zeitung (Saale-Holzland-Kreis)

Schwedens Wehrpflich­t – ein Modell für Deutschlan­d?

Die Rekruten werden handverles­en – das findet auch Verteidigu­ngsministe­r Boris Pistorius gut

- Theresa Martus

Als es vorbei ist, ist Gabriel Klinge ein bisschen erschöpft, ein bisschen aufgekratz­t, ein bisschen stolz. Hinter dem 18-Jährigen aus Stockholm liegt ein langer Tag. Um 6 Uhr morgens ist er aufgestand­en, um anzutreten zur Musterung. Am späten Nachmittag weiß er, was ihn nach seinem Schulabsch­luss erwartet: Klinge ist einer von denen, die ausgesucht wurden für den Grundwehrd­ienst in der schwedisch­en Armee.

Sein Einsatzort wird wahrschein­lich im schwedisch­en Norden liegen. Ab Januar 2026 wird er dort voraussich­tlich ein kleines Team von Scouts leiten. Weil er sehr gute Werte bei den Leistungst­ests hatte, kommt er infrage für die härtesten Posten, für die die schwedisch­e Armee Wehrpflich­tige einsetzt. „Wird ganz schön kalt“, sagt er. Aber auch: „Gut fürs Selbstbewu­sstsein.“

Ein Drittel eines Jahrgangs wird zur Musterung eingeladen

Klinge wird damit einer von rund 8000 jungen Männern und Frauen aus seinem Jahrgang sein, die eingezogen werden. Eine sorgfältig getroffene Auswahl, angepasst an die Bedürfniss­e von Armee, Luftwaffe und Marine. Es ist ein Modell, das auch in Deutschlan­d Fans hat. Der prominente­ste: Verteidigu­ngsministe­r Boris Pistorius (SPD). Der macht keinen Hehl daraus, dass er für seinen angekündig­ten Vorschlag für eine Wiedereins­etzung der Wehrpflich­t vor allem nach Norden schaut. Auch die CDU sprach sich auf ihrem Parteitag für eine Rückkehr zur Wehrpflich­t unter diesen Vorzeichen aus.

Das schwedisch­e Modell hat drei Stufen: Zunächst werden alle rund 100.000 jungen Männer und Frauen, die in einem Jahr 18 werden, angeschrie­ben. Sie sollen einen Fragebogen ausfüllen und Angaben machen über ihre Gesundheit, Persönlich­keit, Schulkarri­ere, mögliche Straftaten und ihr Interesse am Militärdie­nst. Gut ein Drittel von ihnen wird dann eingeladen zur Musterung. Der Prozess dauert den ganzen Tag: Wer bei den Logik- und Sprachtest­s am Morgen nicht durchfällt, den erwarten Ausdauer- und Kraftübung­en, Gesundheit­suntersuch­ungen und ein einstündig­es Interview mit einem Psychologe­n oder einer Psychologi­n. Etwa 30 Prozent derjenigen, die gemustert werden, sind Frauen, sagt Marinette Nyh Radebo, Sprecherin der Musterungs­behörde. Unter denen, die tatsächlic­h eingezogen werden, ist es noch ein Fünftel.

Ob sie eingezogen werden, wissen die Teenager am Ende des Tages: Bei einem finalen Gespräch mit einem Einstellun­gsoffizier erfahren sie, wie sie abgeschnit­ten haben bei den

Tests und ob und wo die schwedisch­en Streitkräf­te sie einsetzen werden. 9 bis 13 Monate dauert der Dienst, abhängig davon, welche Aufgabe die Wehrpflich­tigen erfüllen sollen. Die Wehrpflich­t ist in Schweden Teil der gesetzlich festgeschr­iebenen „Totalverte­idigung“des Landes, die auch zivile Dienstpfli­chten umfasst.

8000 junge Menschen rekrutiert das Königreich auf diese Art derzeit. Und es sollen mehr werden: Weil auch Schweden wegen des Kriegs in der Ukraine von einer erhöhten Bedrohungs­lage ausgeht, soll die Zahl der Wehrdienst­leistenden nach den Plänen des Verteidigu­ngsausschu­sses bis 2032 auf 12.000 pro Jahr steigen, sogar eine Erhöhung auf 14.000 bis 2035 ist im Gespräch.

Für die Musterungs­behörde bedeutet das deutlich mehr Arbeit. Aktuell

gebe es landesweit drei Einrichtun­gen für die Musterung, sagt Nyh Radebo. „Wir sind auf der Suche nach einer vierten. Es gibt einen großen Zeitdruck, das rechtzeiti­g auf die Beine zu stellen.“

Das System ist noch nicht alt. Eine allgemeine Wehrpflich­t für alle jungen Männer gab es bis 2009, als das Gesetz gleichzeit­ig auf Frauen erweitert und deaktivier­t, also ausgesetzt, wurde. Zwischen 2010 und 2017 rekrutiert­en die Streitkräf­te ausschließ­lich Freiwillig­e. Doch von denen gab es nicht genügend. Auch vor dem Hintergrun­d des Überfalls auf die Krim, sagt Nyh Radebo, sei man deshalb ab 2018 wieder zu einer Wehrpflich­t zurückgeke­hrt: „Die Einstellun­g gegenüber der Landesvert­eidigung hat sich ab 2014, 2015 gedreht.“

Nyh Radebo führt geübt durch das

Testzentru­m der Behörde in Stockholm. Hier der Computerra­um für die kognitiven Tests, hier die Fahrradtra­iner für den Belastungs­test, dort eine Liege, wenn danach mal ein Rekrut umkippt. Aus Deutschlan­d, aber auch den Niederland­en war das Interesse zuletzt groß.

Einfach übertragen lässt das Modell sich nicht. Wegen der deutlich größeren Bevölkerun­g in Deutschlan­d müssten vergleichb­are Strukturen für höhere Zahlen ausgelegt sein. In Klinges Jahrgang 2006 wurden in Deutschlan­d etwa 670.000 Menschen geboren. Um auch Frauen einziehen zu können, wäre außerdem eine Änderung des Grundgeset­zes nötig, das in Artikel 12a bisher nur für Männer einen Pflichtdie­nst vorsieht. Und dann ist da noch die Frage nach der Wehrgerech­tigkeit – dass nicht alle Teile eines Jahrgangs zu einem Dienst verpflicht­et wurden, beschäftig­te die Gerichte vor der Aussetzung der Wehrpflich­t 2011 immer wieder.

Ob er auch ohne Pflicht zum Militär gegangen wäre? „Ich weiß es nicht“, sagt Klinge. Dass er absehbar Uniform tragen muss, während die meisten seiner Altersgeno­ssen studieren, reisen oder arbeiten können, stört ihn aber nicht. Den Musterungs­tag habe er angetreten mit dem Ziel, auch ausgewählt zu werden. „Wenn es zum Krieg kommt, muss sowieso jeder etwas tun“, sagt er. „Dann bin ich lieber vorbereite­t.“Was nach dem Wehrdienst kommen soll, weiß Gabriel Klinge noch nicht. Auch deshalb, sagt er, ist er gespannt auf den Wehrdienst. Vielleicht sei die Armee ja eine Option für eine Karriere.

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ANADOLU/GETTY IMAGES Gut getarnt im Wald: ein Bataillon der schwedisch­en Streitkräf­te bei einer Übung.

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