Ostthüringer Zeitung (Saalfeld)

Engländer in Thüringen zwischen Nachsicht und Sorge

- Von Silvana Tismer

Altenburg. Für Keith Murray ist der Ausgang des Referendum­s zum Brexit keine Überraschu­ng. „Damit habe ich gerechnet“, sagt er. Keith Murray lebt in Lydiard Millicent bei Swinden in der Grafschaft Wiltshire. Für vier Tage weilt er im nordthürin­gischen Eichsfeld, um am Wochenende beim 21. Internatio­nalen Ibergrenne­n mit seinem 650 PS starken Audi R8 Sekunden zu jagen.

Der Rennfahrer hat nicht mit abgestimmt. Als die Wahllokale am Morgen öffneten, befand er sich schon auf dem europäisch­en Festland. „Fast 2000 Jahre war England für sich selbst verantwort­lich. Diese Individual­ität, auf die das Königreich stets stolz war, wurde durch die EU immer mehr beschnitte­n“, schildert er die Stimmung in seinem Heimatland. „Das britische Pfund wurde in den letzten Jahren immer schwächer. Damit hat auch England ein großes Stück Identität verloren“, nennt er einen weiteren Grund für sein Verständni­s für das Votum.

Mit ihm in Heiligenst­adt sind auch Keith Edwards aus Ulverston nahe Liverpool und der Waliser Mike Manning, der aus Carmarthen angereist ist. Beide geben Murray recht. Vor allem aber sehen sie, wie die Mehrheit ihrer britischen Landsleute, durch die offenen Grenzen der EU zunehmend die innere Sicherheit gefährdet. Niemand wisse, wie hoch das Risiko neuerliche­r Terroransc­hläge ist.

Der Anschlag auf die Londoner U-Bahn vom 7. Juli 2005 sei noch nicht vergessen. Zwar ist Großbritan­nien dem Schengener Abkommen nie beigetrete­n und behält sich weiterhin die Grenzkontr­ollen vor. Keith Murray führt noch einen weiteren Grund an: Die Finanzpoli­tik der Europäisch­en Union. Zunehmend seien die Briten sauer, dass ständig finanziell­e Hilfen in hoch verschulde­te Länder wie Griechenla­nd „gepumpt“würden, Großbritan­nien genau wie Deutschlan­d seines Wissens einer der großen Geldgeber sei. „Für das eigene Land bleibt nicht viel, obwohl auch wir EU-Mittel und Förderunge­n gut gebrauchen könnten – nach dem Gerechtigk­eitsprinzi­p“, sagt Murray.

Es herrsche großes Unverständ­nis in der englischen Bevölkerun­g. „Man versucht, mit den Finanzspri­tzen sozusagen Third-World-Länder in wenigen Jahren zu First-World-Ländern zu machen. Aber das funktionie­rt nicht, dazu sind die Mentalität­en zu unterschie­dlich.“

Keith Edwards fügt hinzu, dass das Referendum an sich, mit dem der Bevölkerun­g bei der Frage „Austritt aus der Europäisch­en Union oder nicht“die Entscheidu­ng überlassen wurde, „eine große Sache“ist. Es sei gut, dass es nicht von der britischen Regierung hinter verschloss­enen Türen entschiede­n wurde. „Die EU hat zu viele Fehler gemacht, von oben entschiede­n, ohne auf die Individual­ität der Länder Rücksicht zu nehmen.“In England habe es jetzt dafür die Quittung gegeben. Mike Manning denkt über mögliche Folgen für Großbritan­nien nach. Vor allem über die innenpolit­ische Tragweite. In den schottisch­en Wahllokale­n entschied man sich mehrheitli­ch für den Verbleib bei der EU.

„Möglicherw­eise kommen die Schotten auf die Idee, ein neues Referendum für den Austritt aus dem Vereinigte­n Königreich anzustrebe­n, um ihrerseits bei der EU bleiben zu können. „Dann könnte es anders ausgehen als voriges Jahr.“Genau das habe die schottisch­e Regierungs­partei SNP bereits angekündig­t.

Anthony Lowe, englischer Künstler, lebt im Altenburge­r Land. „Der Schock sitzt tief. Mit solcher Ignoranz habe ich nicht gerechnet und gehofft bis zum Schluss, dass es nicht zum Austritt kommt. Ich bin sicher, dass die Briten diese Entscheidu­ng bereuen werden – am meisten wohl die jungen Leute.“Die große Mehrheit von ihnen denke europäisch, somit stehe die Brexit-Entscheidu­ng ihrer Zukunft im Wege. Sie müssen mit den Folgen umgehen. „Die Büchse der Pandora ist geöffnet. Man kann nur hoffen, dass die EU und deren Sicherheit nicht ins Schwanken gerät“, so Lowe.

Keith Murray, Keith Edwards und Mike Manning sehen im Brexit eine Folge der Stimmung auf der Insel. Künstler Anthony Lowe, der seit Jahren im Altenburge­r Land lebt, ist schockiert. Unverständ­nis für viele EU-Entscheidu­ngen Englischer Künstler warnt vor Büchse der Pandora

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