Ostthüringer Zeitung (Saalfeld)
Schock in London, Jubel in der Provinz
angesichts der Mehrheit für den Brexit. „Ich habe richtig Bauchschmerzen.“Abgesehen von den wirtschaftlichen Folgen tut es ihr vor allem für ihre Kinder leid.
„Meine Kinder haben weniger Möglichkeiten in der Zukunft. Sie werden weniger frei reisen und studieren können. Und wofür eigentlich? Da haben alte Leute über die Zukunft junger Menschen entschieden, das ist nicht fair“, sagt sie.
Gerade die Jüngeren machen sich Sorgen um das Image ihres Landes: Lotfi Ladjemi ist Banker, der Brexit bedeutet für den 37-Jährigen unmittelbaren finanziellen Verlust. Aber das interessiert ihn gerade nicht. „Ich dachte immer, wir seien eine weltoffene, liberale und großzügige Gesellschaft“, sagt er. „Das ist es, was für mich bedeutet hat, britisch zu sein“. Jetzt habe das Land wegen seiner Angst vor Einwanderung eine Entscheidung getroffen, deren Auswirkungen viele gar nicht verstanden hätten. „Ich bin seit heute weniger stolz, ein Brite zu sein“, gibt er zu. Nicht nur in London, auch in anderen großen Städten und besonders dort, wo es Universitäten gibt, wie in Cambridge, Oxford, Leeds oder York, gab es viele Stimmen für die EU-Mitgliedschaft. Verloren ging das Referendum hauptsächlich in den ländlichen Gebieten von England und Wales.
Die Labour-Partei und insbesondere ihr Chef Jeremy Corbyn, der nur einen lustlosen ProEU-Wahlkampf betrieben hatte, muss sich nun viel vorwerfen lassen. Gerade in den LabourHochburgen, den heruntergekommenen Ex-Industriestädten in den Midlands und in Nordengland gab es massive Mehrheiten für den Brexit.
Auch der Labour-Abgeordnete John Mann bestätigte: „Wähler der Arbeiterklasse, LabourWähler sind die Leute, die für diese Entscheidung gesorgt haben.“Camerons bitterste Niederlage – sie ist kein Erfolg für Labour-Chef Corbyn. Viele Parteimitglieder, auch Spitzenfunktionäre fordern nun seinen Rücktritt.
Der Brexit ist ein Phänomen des Alters, der Bildung, von Stadt und Land. Die jüngeren und besser gebildeten wollten von dem EU-Austritt nichts wissen . Auf der Nachrichtenplattform Twitter schlossen sich viele junge Leute unter Hashtags wie #notinmyname oder #whathavewedone zusammen -- „nicht in meinem Namen“und „was haben wir getan?“.
Regiert werden die Leute künftig wohl von Politikern, die in der britischen Klassengesellschaft nicht zu den Aufsteigern gehören. Boris Johnson, Theresa May und Co. waren schon oben, als ihre Eltern sie auf Eliteinternate schickten. „Europa ist unsere Zukunft, sonst haben wir keine“, sagte Hans-Dietrich Genscher. Der frühere Außenminister und glühende Europäer wäre fassungslos, hätte er erlebt, was Rechtspopulisten, Europahasser und leider auch visionsfreie EU-Bürokraten gestern gemeinsam erreicht haben: Großbritannien wird die EU verlassen. Es geht raus aus einem Bündnis, das nach einer Jahrhundertkatastrophe ein friedliches, prosperierendes und gerechtes Europa organisieren und gestalten sollte.
Der Verlust Großbritanniens ist für Europa schmerzhaft. Die Briten waren zwar ein anstrengender, aber ein wertvoller Partner. Als Korrektiv zu einem subventionsfreudigen Süden, zur gelegentlich rumpelnden Achse Paris-Berlin und zu neuen Beitrittsstaaten, die nationalistische Töne spucken und Europa mit einem Selbstbedienungsladen verwechseln. Aus und vorbei. Die Briten werden gehen und Europa verliert mit ihnen nicht nur eine stolze Demokratie, sondern auch 20 Prozent seiner Wirtschaftskraft und 65 Millionen Bürger. Dafür bekommt die EU eine ungewisse Zukunft und neue absurde Grenzen.
Das schlimmste Signal, das von diesem Tag ausgeht, ist: Der Prozess des zusammenwachsenden Europas ist umkehrbar. Nach zwei Weltkriegen mit vielen Millionen Toten kann sich Europa doch auflösen und in Nationalstaaten zerfallen, die auf sich alleine gestellt an den großen gemeinsamen Zukunftsfragen scheitern werden.
Auch wenn führende Europapolitiker betont cool den Fortbestand der EU beschwören: Sie tragen eine Mitschuld am Brexit-Desaster und haben Europa mit überzogener Bürokratie sowie sinnloser Gleichmacherei wundregiert.
Ja, Europa muss sich ändern. Es braucht neue Köpfe, die für die europäische Idee begeistern können und nicht die Zuckerdose aus der italienischen Espressobar wegregulieren. Europa darf nicht als Karriere-Abklingbecken missverstanden werden – mit Extra-Diäten, teuren Stäben und Weißwein zum Mittag. Es benötigt eine demokratische Legitimation für die Spitze – sonst werden die Populisten Europa aushöhlen und einer großartigen Idee den Garaus machen.
Was ganz wichtig ist: Europa muss zeigen, dass die Mitgliedschaft in der EU ein extrem hohes Gut ist. Es muss hochattraktiv und darf nicht lästig sein,
Wer die Briten jetzt mit teuren Ausstiegsprogrammen ausstatten will, macht einen „Niexit“der Niederlande oder „Däxit“der Dänen erst recht attraktiv.
Wenn es ein Gutes gibt, ist es die Chance zum Neuanfang, die dürfen wir nicht verspielen.
Ausgerechnet die Hochburgen von Labour stimmten für den Brexit