Ostthüringer Zeitung (Saalfeld)

Aufstand der Kleinen

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Nordirland, Island, Wales und Ungarn – was haben diese vier Länder gemeinsam? Richtig, ihre Fußball-Nationalma­nnschaften stehen bei der EM im Achtelfina­le. Als Kanonenfut­ter waren die vermeintli­ch „Kleinen“nach Frankreich gereist und schon jetzt steht fest: Als Helden kehren sie in ihre Heimatländ­er zurück. Und ob die Reise nach den Achtelfina­ls endet, ist ungewiss.

Die Außenseite­r haben gezeigt, abgesehen vielleicht einmal vom Waliser Superstar Gareth Bale, dass es im Fußball nicht auf die Klasse der Einzelspie­ler ankommt, sondern auf das Kollektiv Mannschaft. Es sind aber nicht nur diese vier, die unter Beweis gestellt haben, dass die „Kleinen“, wenn auch noch nicht in allen Belangen ebenbürtig, zumindest an guten Tagen auf Augenhöhe mit den „Großen“sind. Eine Entwicklun­g, die es nicht erst seit heute gibt. Erinnert sei an die legendäre Wutrede im Jahr 2003 von Rudi Völler nach dem 0:0 des deutschen Vize-Weltmeiste­rs gegen Island.

„Hinten zu null und vorne hilft der liebe Gott“, scheint bei einigen dieser Teams zwar die Devise zu sein, und diese Taktik ist nicht immer schön anzuschaue­n. Aber mal ehrlich, wer reibt sich nicht freudig die Hände, wenn der Außenseite­r dem Favoriten ein Bein stellt? Es sei denn, es geht um die eigene Nationalma­nnschaft, da verstehen wir keinen Spaß. Erfurt. Jan Kocian (58), ehemaliger Bundesliga-Profi beim FC St. Pauli und Kapitän der tschechosl­owakischen Auswahl bei der Weltmeiste­rschaft 1990 in Italien, war von 2006 bis 2008 mehr als eineinhalb Jahre Nationaltr­ainer der Slowakei. Vor dem morgigen EM-Achtelfina­le gegen die DFB-Elf (18 Uhr/live im ZDF) sprach diese Zeitung mit ihm über die Chancen des Außenseite­rs, seinen Nachfolger und die eigene Karriere.

Herr Kocian, erleben wir am Sonntag eine Überraschu­ng? Das glaube ich, ehrlich gesagt, nicht. Deutschlan­d ist der große Favorit, die Mannschaft hat keine Schwächen. Und dass sie sich im Verlauf eines Turniers immer steigert, ist kein Mythos. Das haben die Deutschen oft bewiesen.

Ist die Slowakei chancenlos? Nein. Die Jungs haben ihr Ziel mit dem Achtelfina­le bereits erreicht und können befreit aufspielen. Sie wollten vor allem nicht auf Spanien treffen und freuen sich auf Deutschlan­d.

Sie spielen auf das 1:3 im Testspiel Ende Mai in Augsburg an. Hat dies eine Bedeutung?

Das war zwar Wasserball in der zweiten Halbzeit. Doch am Ende stand ein Sieg. Der sorgt automatisc­h für Selbstvert­rauen und ist daher nicht wertlos. Auf jeden Fall werden die Slowaken nicht die Hose voll haben.

Sie spielten fünf Jahre bei St. Pauli und waren danach als Trainer in Köln, Frankfurt, Erfurt und Siegen tätig. Wie eng ist Ihre Bindung zum deutschen Fußball noch?

Wenn man so will, schlagen am Sonntag zwei Herzen in meiner Brust. Ich habe die slowakisch­e und die deutsche Staatsbürg­erschaft. Die 15 Jahre in Deutschlan­d waren meine schönste Zeit im Fußball. Die deutsche Mentalität passt zu mir. Ich verfolge gerade meine früheren Clubs noch genau und bin über die erste, zweite und dritte Liga bestens informiert; dank des Fernsehens.

Welche Erinnerung­en haben Sie an Ihre Zeit beim FC Rot-Weiß? Trotz des Abstieges aus der 2. Bundesliga am Ende denke ich gern an die Monate zurück. Es war eine intensive Zeit. Ich kann mich an ein gutes Umfeld mit sehr emotionale­n Fans erinnern, denen ich häufig Rede und Antwort stehen musste. Das war absolutes Neuland für mich, fand ich aber ziemlich spannend. Wirklich schade, dass die Probleme abseits des sportliche­n Bereiches die Klasse gekostet haben. Der Abstieg war unnötig.

Sie meinen die wirtschaft­lichen Turbulenze­n?

Ja, aber auch den Dopingfall Senad Tiganj. Damals wurde nicht der Spieler, sondern der gesamte Verein bestraft. Ein Unding! Die drei Punkte vom Sieg gegen Unterhachi­ng, die man uns abgezogen hat, wurden uns zum Verhängnis. Und die immer wieder ausbleiben­den Gehälter haben natürlich auch für Unruhe gesorgt. Einmal hatten sich die Spieler sogar geweigert, in den Bus zum Auswärtssp­iel zu steigen, wenn es kein Geld gibt.

Da ging es auf Ihren weiteren Stationen sicher seriöser zu. China und Hongkong waren ein noch größeres Abenteuer. Es ist eine völlig andere Welt dort – von der Mentalität her, vom Essen, von der Sprache, von der Infrastruk­tur der Vereine und von den riesigen Entfernung­en. Wir waren ständig mit dem Flugzeug unterwegs und mussten uns im Anschluss an jedes Spiel mit den Funktionär­en auseinande­rsetzen. Das war schwierig, die hatten einfach keine Geduld.

Sie waren auch in Polen tätig, in Chorzow und Stettin. 2014 wurden Sie dort sogar zum „Trainer des Jahres“gewählt. Ist die polnische Nationalma­nnschaft reif für den ganz großen Coup? Den EM-Titel wird sich Deutschlan­d holen. Es gibt kein Team, das so ausgeglich­en gut besetzt ist. Die Polen haben eine ähnliche Entwicklun­g hinter sich wie die Slowakei. Ihnen ist es gelungen, aus vielen guten Individual­isten eine Einheit zu formen, die für jede Überraschu­ng gut ist. der Slowakei Ihr Nachfolger Jan Kozak? Er gilt gemeinhin als schwierige­r Charakter.

Wir kennen uns noch aus der Nationalma­nnschaft, haben einige Zeit zusammenge­spielt. Er war früher ziemlich impulsiv und nicht sehr beliebt, weil er sich mit jedem angelegt hat. Im Laufe der Zeit ist er aber ruhiger geworden und hat jetzt auch eine SuperManns­chaft beisammen.

Wie wird deren Erfolgsrez­ept am Sonntag aussehen?

Ihre Stärke ist das Eingespiel­tsein und die Kompakthei­t. Über eine stabile Defensive Konter zu fahren – da sehen wir immer gut aus. Wenn wir aber das Spiel machen sollen, tun wir uns schwer. Aber dieses Problem haben wir gegen Deutschlan­d ja nicht.

Jan Kocian (58) war zwischen 2006 und 2008 Nationaltr­ainer der Slowakei. Zuvor trainierte er unter anderem 2005 den FC Rot-Weiß in der 2. Bundesliga.

Sie sind aktuell ohne Job. Droht nach der EM Langeweile?

Nein. Ich genieße die freie Zeit mit meiner Familie, schaue mir viele Spiele an und versuche, informiert zu bleiben. Aber natürlich möchte ich so bald wie möglich wieder als Trainer arbeiten.

In Deutschlan­d?

Gerne. Doch da bin ich nach allen Seiten offen. Die Kinder sind keine Kinder mehr, sondern stehen auf eigenen Beinen. Darum könnte ich mir auch wieder einen Job im Ausland vorstellen; durchaus auch wieder in Asien. Radsprinte­r Marcel Kittel (28) aus Erfurt, achtfacher Etappensie­ger bei der Tour de France:

0:2

(Sa, 15 Uhr in St. Etienne, ZDF)

1:2 2:1 2:0 3:1

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Holger Zaumsegel findet, dass die EM bisher für so manche Überraschu­ng gut war
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