Ostthüringer Zeitung (Saalfeld)
Stolz nach Stunden rund um die Seen
Neubrandenburg. Es geht um ein Radrennen für Jedermann über 300 km , die an einem Tag zu fahren sind. Start und Ziel ist Neubrandenburg und dazwischen liegt eine große Schleife durch die Alleen Mecklenburgs, um die großen Seen herum.
Meine Voraussetzungen waren alles andere als günstig. Drei Wochen vor dem Start brach beim Fußball wieder eine alte Schulterverletzung auf. MRT und Röntgen bestätigten zum Glück, das nichts gerissen oder gebrochen ist. An Bewegung des Arms oder gar an Radfahren war zunächst jedoch nicht zu denken. Das große Ziel, in Neubrandenburg dabei zu sein, wurde jedoch nicht aus den Augen verloren. Und die erhofften Verbesserungen der Beweglichkeit stellten sich von Tag zu Tag mehr ein. Einen letzten Test sollte es mit einem Halbmarathon beim Rennsteiglauf eine Woche vor dem Start geben. Die Zeit dort war zwar alles andere als berauschend, die Schulter alles andere als schmerzfrei, aber es reifte die Zuversicht , dass es reichen und die Schulter einem 300-kmRennen standhalten könnte.
Am frühen Morgen, fünf Uhr, des Renntages erfolgte der Start zur MSR 300. In einem Starterfeld von 3000 Fahrern aus zehn Ländern begann das Abenteuer, an einem Tag 300 Kilometer mit dem Fahrrad zu fahren.
Als Solo-Fahrer gab es nur eine Strategie, so lange wie möglich in einer starken Gruppe zu fahren, die das Tempo hoch hält, Windschatten ermöglicht, um Kräfte zu sparen. Dies gelang bis zu Kilometer 70 hervorragend. Allerdings war schon vor dem ersten Depot-Stop in Neustrelitz klar, dass ich die hohe Geschwindigkeit der Gruppe nicht mehr lange halten konnte. Zu Beginn des Rennens waren wir immerhin mit einem Schnitt von 30 Km/h unterwegs, was im Jedermann-Bereich schon ambitioniert ist.
Es kam zur Trennung. Fortan versuchte ich neue Gruppen zu finden, was sich schwierig gestaltete, da entweder zu langsam oder zu schnell gefahren wurde. Es folgten zwischen Kilometer 100 und 200 sehr viele Solokilometer. Man „steht“stundenlang allein im Wind, von dem man sowieso permanent das Gefühl hat, es bläst von vorn. Nun waren mentale Reserven gefragt beim Fahren im eigenen Grenzbereich. Nachlassende Konzentration beim Fahren ist auch eine Folge dessen, durch ich eine Markierung verpasste und falsch abgebogen bin. Nach mehreren Kilometern bemerkte ich den Fehler und drehte um, fuhr in die entgegengesetzte Richtung, bis Fahrer entgegen kamen, denen ich mich anschloss. Zusätzlich und unnötig gefahrene Kilometer sind selbstverständlich eine weitere mentale Belastung, da man weiß, dass man mit seinen Kräften haushalten muss. Aber an Aufgabe war zu keiner Zeit des Rennes zu denken, zumal die Schulter kaum schmerzte und das Wetter prächtig war.
Nach zirka 200 Kilometern war auch bei den Kollegen zu spüren, dass die Kräfte spürbar nachlassen. Es gelang, wieder Gruppen zu finden, die „mein“Tempo“fuhren. Leider stellte sich ein neues Problem ein. Aufgrund eines Insektenstichs musste ich mich in medizinische Betreuung begeben. Und weiter geht es - dachte ich. Es bestand die Sorge einer allergischen Reaktion, da ich nicht wusste, was mich gestochen hat und vor allem wie meine Körper unter der Belastung reagiert. Aber für allergische Reaktionen hatte ich keine Zeit. Der Kreislauf funktionierte, die Muskulatur verrichtete weiterhin souverän ihre Arbeit ohne spürbaren Leistungsabfall. Und die Schulterschmerzen hatten lange den Kampf gegen das Adrenalin verloren. Außerdem setzte der Kopf weitere Kräfte frei und findet irgendwo Reserven, wenn man bereits 250 Kilometer hinter sich hat.
Langsam stellt sich das unbeschreibliche Gefühl ein, es schaffen zu können. Die Technik hielt und der Wind spielte keine Rolle, da ich nach wie vor das Tempo in den Gruppen halten konnte. Über mehrere Stunden die Konzentration hoch zu halten ist ein wesentlicher Faktor, der mir bei einem weiteren Depot-Stop zum Verhängnis wurde. Einem inneren Gefühl folgend, dass der Körper unbedingt Zucker benötigt, schüttete ich drei Becher eiskalte Cola in mich hinein und bekam auf den folgenden Kilometern prompt Magen/Darm-Probleme. Verärgert über mich selbst, beschloss ich, diese Probleme ab sofort einfach zu ignorieren. Es funktionierte, wir rollten zielstrebig auf Neubrandenburg zu. Der Wille, das Ziel mit dem Fahrrad und nicht mit dem „Lumpensammler“zu erreichen, trieb uns vorwärts. Mein Tachometer zeigte mittlerweile 300 gefahrene Kilometer an, auf die ich mich mental vorher eingestellt hatte.
Das Ziel war aber noch 20 Kilometer entfernt. Die Erklärung war simpel. Erstens ist die Schleife 307 Kilometer lang, wie ich jetzt erfuhr, und zweitens hatte ich mich ja verfahren. Aber wir waren nicht mehr aufzuhalten. Nichts in der Welt sollte verhindern, dass wir das Ziel aller Träume in Neubrandenburg erreichen. Getragen von überschäumenden Gefühlen auf den letzten Kilometern gab es noch einmal eine brenzlige Situation. In einer der letzten Kurven hatte ich eine zu starke Schräglage, so dass die Pedale den Asphalt berührte. Nein, bitte jetzt keinen Sturz! Instinktiv reagierte ich richtig, konnte den Sturz vermeiden. Und spätestens jetzt war ich wieder hellwach und hoch konzentriert.
Die letzten Kilometer verliefen wie im Rausch, Genuss pur, alles fällt von einem ab. Zieldurchfahrt nach exakt 13 Stunden und 20 Minuten bei zwölf Stunden reiner Fahrtzeit. Damit fast drei Stunden schneller als im Vorjahr! Was für ein Gefühl! Fremde Menschen liegen sich in den Armen. Man merkt nicht die Belastung des Tages, fühlt sich schwerelos und genießt den Moment. Am liebsten möchte man die Zeit anhalten. Unbändiger Stolz beim Überreichen der Medaille und plötzlich sind sie da, die Schmerzen. Jedoch nicht nur an der Schulter, natürlich am ganzen Körper. Alles egal! Geschafft!
Was bleibt ist die Erkenntnis, es im nächsten Jahr wieder tun zu wollen.
Jedes Jahr im Mai! Was früher ein Synonym für die Friedensfahrt war, scheint sich mit der Mecklenburger Seenrunde (MSR ) auch in der heutigen Zeit zu etablieren. An der Rad-Tortur nahm in diesem Jahr auch Uwe Schmidt aus Teichröda teil. Start am frühen Morgen in Neubrandenburg