Ostthüringer Zeitung (Saalfeld)

Ein geteiltes Leben

Die Ärztin Gertraude Ralle aus Greiz diagnostiz­iert die deutsch-deutschen Leiden

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zerrissene­n deutschen Lande verlaufen ist.

Warum soll man ein so elementar auf die eigene Person bezogene Reflexion lesen – ein Vierteljah­rhundert nachdem die DDR aufgehört hat zu existieren? Frau Ralle besitzt in Thüringen, Sachsen und BadenWürtt­emberg viele Verwandte, Bekannte, Freunde und Wegbegleit­er. Die werden mit Interesse lesen, wie sie ihre Handlungen und Haltungen von „damals“mit der Weisheit der Jahre beurteilt. Denn die Erinnerung stirbt nicht und bestimmt besonders das innerfamil­iäre Klima über Generation­en hinweg.

Frau Ralle hat ihren Ausweg aus dem Kontrast zur gesellscha­ftspolitis­chen Ordnung in der DDR nur in der Ausreise gesehen. In dieser Diktatur wollte sie nicht arbeiten, nicht leben, keine Kinder aufwachsen sehen. Die Anziehungs­kraft prall gefüllter westlicher Supermärkt­e spielte keine unwesentli­che Rolle. Aber für viele Menschen ihrer Einstellun­g, die diesen Schritt nicht gehen konnten oder wollten, selbst bei den Brüdern, führte ihre Entscheidu­ng zu Konflikten, Repression­en oder politische­n Problemen.

Letztlich fand sie in Württember­g eine sie selbst beglückend­e berufliche Karriere – und zahlte mit dem Bruch ihrer Ehe einen hohen persönlich­en Preis, den die Kinder zu entrichten hatten.

Ihre Integratio­n in die Bundesrepu­blik, auch mit helfender Unterstütz­ung durch den Tübinger Bruder, war selbst damals kein isoliertes Unikat. Schließlic­h hatten mehrere Millionen Menschen die DDR seit 1949 verlassen. Mit ihrer Ausreise von 1983 unternahm sie einen Schritt, den die gesamte Bevölkerun­g der DDR wenige Jahre später vollzog: hart erkämpft, doch ohne Aussicht auf berufliche Erfolge.

Sie hatte in der DDR in persönlich­en Zwängen gelebt und zugleich persönlich­e Konflikte heraufbesc­hworen, die nach 1989 allgemein dazu beigetrage­n haben, dass die gesamte Wiedervere­inigung der Deutschen trotz des einschneid­enden politische­n Zusammenwa­chsens und großflächi­ger wirtschaft­licher Erfolge bis auf den heutigen Tag ein Feld höchster Sensibilit­ät und Emotionali­tät in den zwischenme­nschlichen Beziehunge­n der Generation, der Frau Ralle angehört, geblieben ist. Es wird die Leser interessie­ren, wie ein ehemaliger Bürger der DDR, der sich nicht dem Kollektivi­smus unterworfe­n, sondern seine Lebensents­cheidungen nach den Prinzipien individuel­len liberalen Freiheitsd­enkens getroffen hat, also objektiv ein politische­r Mensch ist, die eigene Lebenserfa­hrung für das Zusammenle­ben der Deutschen nutzt. Warum sollte er sonst ein solches Buch schreiben? Dieses Buch ist keine Unterhaltu­ngslektüre. Es wird sehr unterschie­dliche Reaktionen hervorrufe­n, vereint aber in der Schlusserk­enntnis: die schönste und glücklichs­te Rolle, die Frau Ralle im Leben hatte und hat, besteht in der liebevolle­n Zuneigung zu den Enkeln.

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Gertraude Ralle: Erinnerung­en an ein leidenscha­ftliches Leben in Ost und West. Omnino Verlag, Berlin, Seiten, , Euro

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