Ostthüringer Zeitung (Saalfeld)

Ein Hoch auf einen schweigsam­en Helden und die Zivilcoura­ge

Erich Hackls Roman „Das Seil“erzählt vom Alltag, wenngleich in dramatisch­en Zeiten

- Von Christiane Oelrich

Ein Freundeskr­eis in Wien, in den 20er-Jahren. Es geht um Politik, Pazifismus, Kommunismu­s. Mittelpunk­t ist die Chemikerin Regina.

Sie macht schüsselwe­ise Maisgrieß, „der sättigte und billig zu haben war“. Als sie ein Kind bekommt, lehnt sie das Angebot des Vaters, sie zu heiraten, ab. Anständig und gewissenha­ft sei er ja, aber „als Ehemann wäre er nicht zum Aushalten“. Und dann kommt 1938.

Regina, Jüdin, wird entlassen, ihr Vater deportiert. Der Vater ihres Kindes geht nach Australien, ihr Freund aus Franken, der erstmal abhaut, „um nicht wegen Rassenscha­nde angezeigt zu werden“, ist Soldat der Deutschen Wehrmacht. „Bleibt Reinhold Duschka“, der schweigsam­e Berliner. Er hat Gürtler gelernt, das Bearbeiten von Metallware­n, und war auf der Wiener Kunstgewer­beschule. Er spricht wenig. Aber macht: Er versorgt Regina und ihre Tochter Lucia mit Obst und Gemüse, lädt sie weiterhin in seinen Schreberga­rten ein, und sagt dann eines Tages „einsilbig, wie es seine Art ist“, dass er sie verstecken wird.

Wie Frau und Kind in dem Verschlag in Duschkas Werkstatt den Alltag meistern, Essen, Klo, Monatsblut­ung, und mit der Sehnsucht nach dem Leben draußen fertig werden, das erzählt Erich Hackl auf 111 kleinen bedruckten Seiten in „Am Seil. Eine Heldengesc­hichte“. Ohne Kapitel, ohne Dramatik, ohne direkte Rede. Wie die Tochter Lucia Schillers „Lied von der Glocke“auswendig lernt, neunzehn Strophen. Wie sie am Sonntag, bei Grabesstil­le, in dem Werkstatt-Gebäude kein Licht machen dürfen, weil sonst der Zähler im Flur gelaufen wäre, und wie sie auch nicht die Toilette benutzen konnten, weil die Spülung sie womöglich verraten hätte. Der Autor holt Dramatik und Eintönigke­it, Enge und Angst, aber auch schnöden Alltag mit dem Geruch nach Lötfett und Polierpast­e mit seiner knappen, präzisen Sprache ganz nah ran. Es ist der preisgekrö­nte österreich­ische Autor und Übersetzer Erich Hackl.

Auch Reinhold Duschka ist so ein Held. Und weil sein Innenleben verborgen bleibt – die wahre Geschichte, nüchtern aufgeschri­eben, stammt aus den Erinnerung­en der geretteten Lucia – heftet Hackl ihn auch nach dem Ende des Buches im Gedächtnis des Lesers fest. Unspektaku­lär das Leben, heldenhaft der Mann – wie tickt so einer?

„Reinhold schwieg, weil er ohnehin nur dann etwas sagte, wenn er es für unerlässli­ch hielt“, heißt es im Buch. Aber er sorgt dafür, dass er nicht eingezogen wird, bringt dem Kind das Löten bei, das Schreibmas­chineschre­iben, spielt mit ihm „Stadt, Land, Fluss“.

Manchmal taucht unvermitte­lt das „Ich“im Text auf. Es ist vor allem Lucias Sicht auf die Ereignisse. „Meine Mutter war eine Plaudertas­che, sie hat gern geredet, Reinhold nur hier und da ein Wort eingeworfe­n, und ich – ich habe angestreng­t überlegt, was ich sagen könnte“, heißt es dann etwa, ohne Anführungs­zeichen.

Lucias Erinnerung­en sind manchmal verschwomm­en, und Hackl kaschiert das nicht: „Reginas beherzte Widerrede ist ebenso erfunden wie sein barscher Ton“, heißt es einmal. Erst kurz vor seinem Tod 1993 ist Duschka als einer von heute mehr als 25000 Menschen mit dem israelisch­en Titel „Gerechter unter den Völkern“geehrt worden. Das ist eine Auszeichnu­ng für Nichtjuden, die Juden während des Zweiten Weltkriegs vor der Ermordung retteten. Duschka wollte das lange nicht. Hackl setzt nicht nur dem schweigsam­en Helden ein anrührende­s Denkmal. Er stellt auch Zivilcoura­ge, Freundscha­ft, Vertrauen, Dankbarkei­t auf ein Podest.

Kurz vor seinem Tod 1993 von den Israelis geehrt

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