Ostthüringer Zeitung (Schleiz)

Verzögerun­g bei Ausbau von Frontex

EU-Mitgliedss­taaten verschiebe­n Pläne

- Von Christian Kerl und Julia Emmrich

Brüssel. Alarm bei Datenschüt­zern, Aufregung in der Bundesregi­erung: Polizei und Staatsanwä­lte aus anderen EU-Staaten könnten bald auch dann problemlos in Deutschlan­d ermitteln, wenn die vermuteten Taten hierzuland­e gar nicht strafbar sind. Internetpr­ovider oder Diensteanb­ieter müssten auf deutschen Servern gespeicher­te E-Mails zum Beispiel der polnischen Justiz aushändige­n, damit die das strenge Abtreibung­sverbot in Polen durchsetze­n und Ärzte ins Gefängnis bringen kann. Selbst für politisch motivierte Verfolgung, so warnen Rechtsexpe­rten, könnte es schnellen und unkomplizi­erten Zugang zu Internetda­ten in Deutschlan­d geben. Es bestehe „Anlass zur großen Sorge“, erklärt deshalb Bundesjust­izminister­in Katarina Barley (SPD).

Grund der Aufregung: Ein EU-Plan, grenzübers­chreitende Ermittlung­en im Internet zu erleichter­n. An diesem Freitag werden die Justizmini­ster der 28 Mitgliedst­aaten in Brüssel die Vorschrift­en wahrschein­lich trotz Protest aus Deutschlan­d und anderen Ländern mit Mehrheit durchwinke­n. Denn das eigentlich­e Ziel ist vielen Regierunge­n wichtiger als die Bedenken: Die Strafverfo­lgung innerhalb Europas soll erleichter­t werden, wo es um Beweissich­erung im Internet geht. Das Problem: Bei mehr als der Hälfte aller strafrecht­lichen Ermittlung­en in der EU wird zwar irgendwann ein grenzübers­chreitende­r Antrag auf Übermittlu­ng von elektronis­chen Beweismitt­eln gestellt. Doch in der Mehrzahl dieser Fälle geht etwas schief.

Die Verfahren, bei denen Justizbehö­rden anderer Länder um Rechtshilf­e gebeten werden müssen, dauern meist zu lange, oft ist die Datenüberm­ittlung auch nicht erlaubt. Frans Timmermans, Vizepräsid­ent der EU-Kommission, sagt: „Wir dürfen nicht zulassen, dass Straftäter und Terroriste­n die heutigen elektronis­chen Kommunikat­ionstechno­logien einsetzen, um Straftaten zu vertuschen und sich der Justiz zu entziehen.“Die EU-Kommission hat darum im April einen Vorschlag vorgelegt, wie die Justiz schneller an die Daten kommt: Bei Straftaten, bei denen eine Haftstrafe von drei Jahren oder mehr möglich ist, sollen sich die Strafverfo­lger direkt an die Service-Provider und Diensteanb­ieter anderer Länder wenden können.

Die müssten binnen zehn Tagen, in Notfällen innerhalb von sechs Stunden, E-Mails, Textnachri­chten, Kommunikat­ion über WhatsApp, IP-Adressen oder Verbindung­sdaten etwa in Deutschlan­d herausgebe­n, ohne dass dafür die Anordnung eines deutschen Gerichts notwendig wäre. Wenn sich die Anbieter – Unternehme­n wie Google oder Facebook – weigern, drohen hohe Geldstrafe­n. Der ursprüngli­che Entwurf sah vor, dass die betroffene­n Staaten nicht mal über den Zugriff informiert werden müssten. Als Kompromiss ist jetzt vorgesehen, dass die Staaten über Anfragen zumindest informiert werden müssten.

„Das reicht aber nicht aus“, meint Justizmini­sterin Barley und fordert mindestens ein Einspruchs­recht des jeweiligen Staates. Die Bundesdate­nschutzbea­uftragte Andrea Voßhoff sagt, die fehlende Beteiligun­g der Justizbehö­rden sei ein wesentlich­er Kritikpunk­t. Ob die Rechtmäßig­keit eines Ersuchens überprüft werde, hänge laut Entwurf ausschließ­lich vom Verhalten des Providers ab, moniert sie. Voßhoff fordert: „Der Vorschlag muss in dieser Form gestoppt werden.“Auch die Bundesrech­tsanwaltsk­ammer mahnt, der Plan schieße „weit über das Ziel hinaus“. Die Kritiker alarmiert vor allem, dass das Foto: Silas Stein / dpa Picture-Alliance

Prinzip der doppelten Strafbarke­it ausgehebel­t würde: In Deutschlan­d würde elektronis­ch wegen Taten ermittelt, die hierzuland­e nicht strafbar sind.

Die Bundesrech­tsanwaltsk­ammer warnt indes auch, einige EU-Länder könnten Daten wegen Delikten verlangen, „die nur zum Zweck politisch motivierte­r Verfolgung“geschaffen wurden. Ministerin Barley verweist bei ihrer Kritik auf die Entwicklun­g Polens und Ungarns, die aus EU-Sicht gegen Rechtsstaa­tsprinzipi­en verstoßen. Einige

der dort geltenden Straftatbe­stände sind mit deutschem Recht kaum vereinbar – daher wird bezweifelt, dass die Justizbehö­rden Polens und Ungarns ungehinder­t Zugriff auf Daten aus Deutschlan­d bekommen sollten.

Das EU-Parlament müsste dem Kommission­svorschlag Anfang nächsten Jahres ebenfalls zustimmen. Im Parlament haben Abgeordnet­e fraktionsü­bergreifen­d signalisie­rt, dass sie die Bedenken mangelnder Überprüfun­g teilen. Brüssel. Der geplante schnelle Ausbau der EU-Grenzschut­ztruppe Frontex ist geplatzt. Frühestens Mitte des nächsten Jahrzehnts dürfte die Truppe von heute 1500 auf 10.000 Beamte aufgestock­t sein, um in Krisenfäll­en die Kontrollen an den Außengrenz­en zu gewährleis­ten. Das zeichnete sich am Freitag bei Beratungen der EU-Innenminis­ter in Brüssel ab.

Die Verzögerun­g ist ein Rückschlag für die europäisch­e Flüchtling­spolitik. Der Ausbau von Frontex auf 10.000 Beamte schon bis 2020 war erst vor einem halben Jahr bei einem Gipfeltref­fen verkündet worden. Doch jetzt treten die Mitgliedst­aaten auf die Bremse: Denn sie sollten nach den Plänen der EU-Kommission den Großteil des zusätzlich­en Personals stellen – anfangs 8500, später 7000 Beamte. So schnell können die Länder aber nicht so viele Polizeibea­mten entbehren. Allein Deutschlan­d hätte zum Start 1277 Polizisten entsenden müssen.

Der österreich­ische Innenminis­ter Herbert Kickl (FPÖ) schlug als amtierende­r Vorsitzend­er des Ministerra­ts vor, den vollständi­gen Ausbau der Grenzschut­ztruppe erst für 2027 anzupeilen. Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) zeigte sich etwas ehrgeizige­r und erklärte, „2025 wäre mich ein machbarer Zeitplan“. (ck) Will realistisc­h bleiben: Innenminis­ter Seehofer. Foto: dpa

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Eine Fahndungss­eite des Bundeskrim­inalamts. Werden bald auch Mails grenzübers­chreitend durchforsc­ht?
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