Ostthüringer Zeitung (Schleiz)

Mordfall Lübcke: neue Dimension von Rechtsterr­orismus

Jenaer Wissenscha­ftler sieht Urteile im NSU-Prozess als eine Ursache

- Von Christian Unger, Matthias Korfmann und Uta Winkhaus

Jena. Der Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesel­lschaft, Matthias Quent, sieht in dem Mord an dem Kasseler Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke eine neue Dimension des Rechtsextr­emismus. Erstmals seit 1945 sei ein amtierende­r Politiker von einem mutmaßlich­en Rechtsextr­emisten ermordet worden, sagte Quent. „Deswegen ist die Tat eine Zäsur.“Die Tat sei „klar ein Fall von Terrorismu­s“. Denn es handele sich um eine erhebliche Gewalttat mit politische­r Dimension und dem Ziel, Angst und Schrecken zu verbreiten.

Quent warnte vor einer weiter steigenden Gefahr von Rechts. „Das Spektrum ist extrem unübersich­tlich geworden.“Die Grenzen zwischen Rechtspopu­listen und militanten Gruppen verwischte­n. Rechtsextr­eme Täter fühlten sich bestärkt durch die Erfolge der AfD – und legitimier­t als diejenigen, die nur die Stimmung in der Bevölkerun­g in Handeln umsetzten. Auch die eher milden Urteile im NSU-Prozess hätten der Szene Aufwind verschafft. Eine abschrecke­nde Wirkung sei damit ausgeblieb­en. Die Szene habe gesehen, dass der Mord an zehn Menschen keine weitreiche­nden Folgen nach sich gezogen habe. (dpa)

Berlin/Kassel. Bisher hieß es: Der Tatverdäch­tige im Mordfall Walter Lübcke habe allein gehandelt, Hinweise auf ein rechtsextr­emes Netzwerk um den mutmaßlich­en Mörder Stephan E. gebe es nicht. Doch nun geht die Bundesanwa­ltschaft Medienberi­chten zufolge Hinweisen nach, dass es im Fall des ermordeten Kasseler Regierungs­präsidente­n Lübcke mehrere Täter gegeben haben könnte. Nach Informatio­nen von „Süddeutsch­er Zeitung“, NDR und WDR will ein Zeuge in der Tatnacht zwei Autos bemerkt haben, die in „aggressive­r Manier“durch den Wohnort Lübckes fuhren. 20 Minuten zuvor habe der Zeuge, ein ehemaliger Bundeswehr­soldat, einen Schuss gehört.

Lübcke war in der Nacht zum 2. Juni auf der Terrasse seines Wohnhauses in Wolfhagen-Istha bei Kassel erschossen worden. Er habe, so der Zeuge, den Eindruck gehabt, als hätten sich die beiden Autofahrer verfahren. Eines der Fahrzeuge habe wie ein Volkswagen Caddy ausgesehen. Später hätten die Ermittlung­en laut dem Bericht ergeben, dass der Rechtsextr­emist Stephan E. aus Kassel einen solchen VW Caddy fahre, der auf seine Frau zugelassen sei. Stephan E. hatte am Tatort auch eine DNA-Spur hinterlass­en, seit Sonntag sitzt er unter dringendem Tatverdach­t in Untersuchu­ngshaft.

Über das Leben des Verdächtig­en werden immer mehr Details bekannt. Bis zum Wochenende lebte Stephan E. in einem kleinen Einfamilie­nhaus mit Gärtchen, gemeinsam mit Sohn, Tochter und Partnerin. Die Strafverfo­lger gehen zwar noch immer weiteren Motiven nach. Doch ihre erste These ist eine andere: Walter Lübcke wurde Opfer einer rechtsextr­emen Mordtat.

Stephan E. auf Youtube

Nachbarn beschreibe­n Stephan E. in Interviews als unauffälli­g und zurückhalt­end. Einer sagt sogar „zurückgezo­gen“. Der 45 Jahre alte E. war Mitglied im Schützenve­rein, wenige Kilometer entfernt von seinem Wohnhaus. Bis Montag hatte der Verein ein Bild auf der Webseite. Es zeigt einen Mann mit schwarzer Mütze, darunter kurze Haare, dunkle Augen. Darüber steht: „Referent Bogen“. Im Verein sei Stephan E. sonntags immer zum Bogenschie­ßen gekommen, sagt der Vorsitzend­e jetzt. Er reagiert vorsichtig, da die Ermittlung­en laufen und viele Journalist­en bei ihm anrufen. Aber auch er sagt auf Nachfrage unserer Redaktion, dass Stephan E. unauffälli­g gewesen sei. „Ein ruhiger Typ.“Zu Schusswaff­en habe er keinen Zugang gehabt. Mittlerwei­le ist das Bild von E. von der Internetse­ite des Schützenve­reins verschwund­en.

Die Polizisten, die E.s Wohnung durchsucht­en, entdeckten zwar Waffen, allerdings keine scharfen, sondern eine Schrecksch­usspistole. Zudem Unterlagen, die Indiz dafür sind, dass sich E. dafür interessie­rte, eine Erlaubnis zum legalen Waffenbesi­tz zu erwerben. Die Tatwaffe wurde bisher nicht gefunden.

Ein Bericht der Sonderkomm­ission „Liemecke“des hessischen Landeskrim­inalamts hält nach Informatio­nen unserer Redaktion dagegen fest, dass Stephan E. eine „Affinität zu Waffen“hatte. Das habe eine erste Auswertung des beschlagna­hmten Handys ergeben. Und noch etwas habe diese Handy-Sichtung ziemlich schnell gezeigt: die „klare rechte Gesinnung“des Tatverdäch­tigen.

Regierungs­präsident Walter Lübcke galt unter Fremdenfei­nden und Neonazis als Feindbild, erhielt Morddrohun­gen, weil er sich mehrfach für eine offene Flüchtling­spolitik eingesetzt hatte. Stephan E. war über viele Jahre gut in der rechtsextr­emen Szene vernetzt, bewegte sich laut „Die Zeit“im bewaffnete­n Arm der verbotenen Gruppe „Blood Honour“, trieb sich in Kreisen der Neonazi-Partei NPD herum.

2009 war Stephan E. an dem Überfall von mehreren Hundert Rechtsextr­emen auf eine MaiDemo der Gewerkscha­ften in Dortmund beteiligt. Auch in der Stadt in Nordrhein-Westfalen ist die rechtsextr­eme Szene stark. Auch dorthin hatte E. Kontakte.

Die Gewalttate­n von Stephan E. begannen schon in seinen Teenager-Jahren. 1989 setzte er ein Mehrfamili­enhaus in Hessen in Brand, 1993 versuchte er, mit einer selbst gebastelte­n Rohrbombe eine Asylbewerb­erunterkun­ft anzugreife­n. Er wurde zu sechs Jahren Haft verurteilt. Mit mehreren anderen Delikten fiel er auf: schwere Körperverl­etzung, Raub, gemeinscha­ftlicher Totschlag.

Nach dem Überfall auf die Demonstrat­ion im Mai 2009 aber stoppen die Einträge bei der Polizei. Stephan E., so scheint es den Sicherheit­sbehörden, zieht sich zurück aus der Szene. Der Verfassung­sschutz in Hessen löscht seine Daten, nachdem er fünf Jahre nicht auffiel. Stephan E. verschwind­et vom Radar der Behörden.

Bei einer Pressekonf­erenz am Dienstag heben die Chefs von Bundeskrim­inalamt und Verfassung­sschutz die Gefahr von Rechtsextr­emismus hervor. Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) nennt den Mord an Lübcke ein „Alarmsigna­l“. Doch deutlich wird auch: Was der Tatverdäch­tige zuletzt trieb, war Polizei und Nachrichte­ndienst nicht bekannt. Das brachten erst die Ermittlung­en nach der Festnahme und die Untersuchu­ng von Handy und Computer hervor.

Zum Beispiel Hassparole­n, die Stephan E. noch 2018 auf Youtube verbreitet hat: „Entweder diese Regierung dankt in Kürze ab oder es wird Tote geben.“

„Entweder diese Regierung dankt in Kürze ab oder es wird Tote geben.“

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FOTO: ACTION PRESS Der Tatverdäch­tige Stephan E. hatte Kontakt zu mehreren rechtsextr­emen Organisati­onen – darunter die gewalttäti­ge Gruppe „Combat “.
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FOTO: UWE ZUCCHI/DPA Das Haus von Stephan E. und seiner Familie im Kasseler Osten.

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