Ostthüringer Zeitung (Schleiz)

„Er wollte unsere Türen aufschieße­n“

In Halle tötet ein schwer bewaffnete­r Mann zwei Menschen. Regierung spricht von „antisemiti­schem Hintergrun­d“

- Von Philipp Neumann und Christian Unger

Berlin/Halle. Es sind schrecklic­he und verstörend­e Bilder, die offenbar mit dem Handy aufgenomme­n wurden: Um die Mittagszei­t am Mittwoch stoppt ein Mann seinen VW Golf auf der Ludwig-Wucherer-Straße in Halle. Er steigt aus, stellt sich hinter das Auto und schießt die Straße entlang. Mindestens vier Mal feuert er sein Gewehr ab. Dann steigt er ein und fährt weiter.

Nur bruchstück­haft wird am Mittwoch klar, was in Halle – und in der wenige Kilometer entfernten Stadt Landsberg – passiert ist. Fakt ist: Am Ende des Tages haben zwei Menschen durch Schüsse ihr Leben verloren. Weitere liegen mit zum Teil schweren Verletzung­en im Krankenhau­s. Ein Verdächtig­er wurde von der Polizei festgenomm­en. Der Generalbun­desanwalt hat die Ermittlung­en übernommen. Begründung: Mord von besonderer Bedeutung.

Was ist in Halle geschehen? Um kurz vor 13 Uhr am Mittwochna­chmittag meldet die Polizei Halle einen Großeinsat­z. Schon zu diesem Zeitpunkt ist den Sicherheit­sbehörden klar, dass „Personen getötet“wurden. „Täter flüchtig“, twittert die Polizei. Und: „Bitte bleiben Sie in Ihren Wohnungen oder suchen Sie sichere Orte auf.“Offiziell spricht die Polizei von einer „Amoklage“. Der Tatort, an dem der Mann aus dem Auto steigt und schießt, liegt nördlich der Altstadt von Halle. Nur rund 500 Meter entfernt befindet sich die Synagoge der Stadt. Hier feiern Gemeindemi­tglieder am Mittwoch Jom Kippur, das höchste jüdische Fest. Etwa 80 Personen befinden sich mittags in der Synagoge.

Nach Angaben des Vorsitzend­en der Jüdischen Gemeinde zu Halle, Max Privorozki, richtet sich der Angriff direkt gegen die Synagoge. „Wir haben über die Kamera unserer Synagoge gesehen, dass ein schwer bewaffnete­r Täter mit Stahlhelm und Gewehr versucht hat, unsere Türen aufzuschie­ßen“, sagt Privorozki nach dem Angriff. Die Türen hätten aber standgehal­ten. Der oder die Täter hätten auch versucht, das Tor des danebenlie­genden jüdischen Friedhofs aufzuschie­ßen, sagt der Vorsitzend­e. Später heißt es, auch Sprengsätz­e sollen vor der Synagoge platziert worden sein. Detonation­en gab es aber nicht. Augenzeuge­n berichten von Granaten oder Molotowcoc­ktails, die über die Friedhofsm­auer geworfen worden sein sollen.

Durch die Schüsse vor der Synagoge stirbt dort offenbar eine zufällig vorbeikomm­ende Frau. In einem Döner-Imbiss an der Ludwig-Wucherer-Straße erschießen der oder die Täter einen Mann. Das deutet darauf hin, dass die Schüsse offenbar wahllos abgegeben werden. In welcher zeitlichen Abfolge die Taten geschehen sind, ist bis zunächst unklar.

Der oder die Täter sollen in der Nähe des Tatorts an der Synagoge ein Taxi gestohlen haben und in Richtung Süden geflohen sein. Auf der Autobahn soll es einen Unfall gegeben haben. Einen Täter hat die Polizei angeblich am Nachmittag am Unfallort festgenomm­en. Er soll verwundet und im Krankenhau­s notoperier­t worden sein. Ein weiterer soll auf der Flucht sein. Im Taxi sollen sich Waffen befunden haben.

Der Polizeiein­satz in Halle dauert bis in den Abend. Die Einsatzkrä­fte suchen die Straße mit Drohnen von oben ab. Der Dönerladen wird mit Robotern durchsucht, weil Handgranat­en und Feuerwerks­körper platziert worden sein könnten. Ganze Straßenzüg­e sind abgeriegel­t.

Busse und Bahnen stellen ihren Betrieb in Halle bis zum späten Nachmittag ein. Der Hauptbahnh­of der Stadt wird von mittags bis 18 Uhr gesperrt. Reporter berichten aber noch am Abend von einer fast menschenle­eren Stadt und beschreibe­n die Situation als Ausnahmezu­stand. Viele Menschen können nicht in ihre Wohnungen. Um 18.15 Uhr twittert die Polizei: „Die Gefährdung­slage für die Bevölkerun­g wird nicht mehr als akut eingestuft. Sie können wieder auf die Straße.“ Was ist in Landsberg geschehen?

Der 15.000-Einwohner Ort liegt rund 15 Kilometer östlich von Halle an der B 100. Augenzeuge­n berichten, dass in dem Ort Schüsse gefallen sind. Es soll einen Verletzten gegeben haben, der in einer Autowerkst­att gearbeitet haben soll. Die Polizei hat den Ort am frühen Abend fast vollständi­g abgeriegel­t. Es soll auch hier eine Festnahme gegeben haben.

Über die Warn-App „Katwarn“setzt die Polizei eine Warnung für Halle und Landsberg ab. Darin heißt es: „Schusswaff­engebrauch im Bereich Landsberg, Gebäude und Wohnungen nicht verlassen. Von Fenster und Türen fern bleiben.“Die Geschehnis­se in Landsberg bleiben bis in den Abend hinein unklar.

Was ist über den/die Täter bekannt? Die Fotos und Videoseque­nzen von der Tat, die von Augenzeuge­n verbreitet werden, zeigen immer nur einen Täter: Er trägt eine Art dunkelgrün­e Uniform und einen Helm, auf dem eine Videokamer­a befestigt ist. Laut „Spiegel“soll er Deutscher sein, 27 Jahre alt und aus dem Burgenland­kreis in Sachsen-Anhalt stammen. Das Bundesinne­nministeri­um sprach von einem „antisemiti­schen Hintergrun­d“. Während seines Angriffs soll der Täter über „Juden“und „Kanaken“geschimpft haben. Das soll aus dem Video hervorgehe­n, das er mit der Kamera an seinem Helm aufgenomme­n und im Internet hochgelade­n hat. Auch dass die Bundesanwa­ltschaft in Karlsruhe die Ermittlung­en übernommen hat, deutet darauf hin, dass die Sicherheit­sbehörden von einem Terroratte­ntat ausgehen.

Ein Augenzeuge, der den Tod des weiblichen Opfers vor der Synagoge beobachtet hat, beschreibt diesen Täter so: „Der war gekleidet wie ein Polizist – in totaler Kampfausrü­stung, mit Helm und Schutzklei­dung“. Der Mann soll bewaffnet mit Schrotflin­te und Maschineng­ewehr bewaffnet gewesen sein.

Bei dem VW Golf, aus dem der Mann auf der Ludwig-Wucherer-Straße in Halle ausgestieg­en ist, handelt es sich offenbar um einen Mietwagen. Zugelassen ist er in der Stadt Euskirchen in Nordrhein-Westfalen. Dieses Kennzeiche­n wird von mehreren Mietwagenf­irmen verwendet. Angeblich wurde der Wagen für die Zeit vom 7. bis 10. Oktober gemietet.

Welche Folgen hat der Vorfall in anderen Städten und Bundesländ­ern?

Alle Bundesländ­er haben den Polizeisch­utz vor Synagogen verstärkt. Die Bundespoli­zei verstärkt Kontrollen an Bahnhöfen und Flughäfen, vor allem in Mitteldeut­schland.

Welche Reaktionen gibt es in der deutschen und internatio­nalen Politik?

Die Angriffe lösen rund um die Welt Entsetzen aus. UN-Generalsek­retär António Guterres sagt, die Attacke auf eine Synagoge am jüdischen Feiertag Jom Kippur sei ein weiterer tragischer Akt des Antisemiti­smus. Er ruft zum Kampf gegen Judenhass auf. Die CDU-Vorsitzend­e Annegret Kramp-Karrenbaue­r sagte: „Sollten sich die bisherigen Informatio­nen bestätigen, dann galt der Angriff der jüdischen Synagoge.“Ein solcher Angriff am höchsten jüdischen Feiertag sei „ein Alarmzeich­en, das niemanden in Deutschlan­d unberührt lassen kann.“Die kommissari­sche SPD-Chefin Malu Dreyer sagte: „Vieles deutet darauf hin, dass sich die brutale Gewalt gegen jüdisches Leben richtete. Das werden wir in Deutschlan­d niemals dulden.“

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SCREENSHOT: ATV-HALLE Eine Videoaufna­hme eines Anwohners zeigt den mutmaßlich­en Täter, wie er mehrmals sein Gewehr abfeuert – ausgerüste­t wie ein Militärang­ehöriger.
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FOTO: REUTERS Polizei und Rettungskr­äfte am Tatort vor der Synagoge und dem jüdischen Friedhof in Halle. Unter der Plane liegt ein Opfer
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FOTO: JAN WOITAS Nach Schüssen auch im nahen Landsberg ist die Bundespoli­zei in der Stadt mit einem Hubschraub­er im Einsatz.
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FOTO: IMAGO STOCK&PEOPLE Ziel des Angreifers: Die Jüdische Synagoge in Halle

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