Ostthüringer Zeitung (Schleiz)

Aufzeichnu­ngen eines Freigestel­lten

In seinem neuen Buch zeigt Friedrich Christian Delius die Verwerfung­en in der Gegenwart

- Von Christina Onnasch

Das Ende kommt dann doch plötzlich. Er, ein namenloser Wirtschaft­sredakteur bei einer renommiert­en Zeitung in Berlin, spezialisi­ert auf Globalisie­rungsfrage­n, wird von heute auf morgen freigestel­lt. Ein Schlag. „Mit 63, auf dem Höhepunkt meiner Kenntnisse, Erfahrunge­n und bescheiden­en Fähigkeite­n einfach stumm geschaltet.“Seinen Chefs, so vermutet er, sind seine Artikel zu kritisch und zu düster.

Kassandra, wie der Redakteur von seinen Kollegen genannt wird, nimmt es gelassen und ist „seltsam glücklich mit dem Gedanken: weiterschr­eiben, aber ganz anders, frei, endlich frei, wirklich frei“.

Diesen Frührentne­r wider Willen lässt Friedrich Christian Delius in seinem neuen Buch „Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich“ein Zeitalter besichtige­n – das der 2000er-Jahre. Und alles kommt zur Sprache: Bildungsno­tstand, Bahnmisere, Digitalisi­erung, Einwanderu­ng, Bankenkris­e samt besonderer Rolle Griechenla­nds, Medien, die Weltmacht China und „MÜK, die maßlos überschätz­te Kanzlerin“.

Das fiktive Tagebuch – ein Roman, wie der Verlag etikettier­t, ist es keinesfall­s – reicht vom September 2017 bis Juli 2018, adressiert an seine Nichte Lena, 19, damit sie sich in naher oder ferner Zukunft ein Bild machen kann von den dann längst vergangene­n Jahren.

Diese Aufzeichnu­ngen eines Ungehalten­en sind voller herrlicher Bosheit. In ihrer Schonungsl­osigkeit sind sie vom Autor aber durchaus heiter gedacht. An Fakten hat der Tagebuchsc­hreiber sicher kaum Neues mitzuteile­n, aber wie er Zusammenhä­nge herstellt und über Ursache-Wirkungs-Prinzipien nachdenkt, befeuert die Freude am (Selber-)Denken. Einmal mehr glänzt Delius auch in diesem Buch mit Bonmots, Aphorismen und präzise gesetzten Pointen. Der titelgeben­de Satz „Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich“ist ein Beispiel dafür. Die politische Stimmungsl­age und nervöse Gereizthei­t der Gegenwart sind hier zutreffend erfasst.

Am Ende notiert der Tagebuchsc­hreiber mit feiner Ironie: „(Fast) ein Jahr mein eigener Pausenclow­n, das reicht.“

■ Friedrich Christian Delius: Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich. Rowohlt Berlin,  Seiten,  Euro.

Der Autor liest am Montag,

. Oktober, . Uhr, im Erfurter Augustiner­kloster.

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