Ostthüringer Zeitung (Schleiz)
„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger
Als er diese junge Frau das erste Mal mit einem bekannten Theater-Regisseur zusammen sah, mit dem er lose befreundet war, dachte er gar nicht darüber nach. Beim zweiten Mal hielt er es für einen Zufall. Und beim dritten Mal gestand ihm der Regisseur, dass die beiden ein Paar seien. Stadler war zunächst schockiert – die beiden waren schließlich 20 Jahre auseinander.
Was treibt eine junge Frau in die Arme eines alten Mannes? Das Münchner Pärchen war das erste, bei dem er sich diese Frage bewusst stellte, ein Fall, bei dem er sich nicht mit den üblichen Klischees zufriedengeben wollte.
Dann erfuhr er, dass diese Literaturwissenschaftlerin ein Scheidungskind und ohne Vater aufgewachsen war. Möglicherweise suchte sie ja in dem gesetzten Mann den Vater, den sie immer vermisst hatte. Das Vater-Syndrom nannte er diese Theorie von nun an für sich. Keine schöne Vorstellung. Die Frage nach dem Altersunterschied gewann für ihn umso mehr an Bedeutung, je öfter er darüber nachdachte. Mit Geld, Macht und Prominenz hatte er die eine Theorie, das Vater-Syndrom war eine zweite. Doch keine davon wollte so recht auf Carlotta und ihn zutreffen.
20. Kapitel
September schon. Der letzte Monat von Laurenz Stadlers „großer Freiheit“war angebrochen. Das Säckchen mit den Murmeln wurde immer leichter. Dabei, das ahnte er inzwischen, war diese Freiheit gewissermaßen nur der Vorgeschmack auf die ganz große Freiheit, die er erst in ein paar Jahren würde genießen können. Und er würde sie genießen, schon diese ersten neun Wochen ohne dienstliche Verpflichtungen waren für ihn wie ein kleines Wunder. So lange hatte er noch nie frei. Gelegentlich, im Gespräch mit Kollegen, die gleich ihm in den Fünfzigern waren oder gar schon den Ruhestand genossen, hörte er
Warnungen vor dem Rentnerdasein. Da fallen viele in ein Loch, hieß es, da leiden manche unter einem Bedeutungsverlust, unter dem Nichtmehrgebrauchtwerden, von Depressionen war die Rede, Trinkerkarrieren wurden an die Wand gemalt und dergleichen mehr. Laurenz Stadler hatte noch nie Angst davor, eines Tages nicht mehr morgens ins Büro zu gehen oder einen Termin wahrzunehmen. Im Gegenteil, er freute sich auf Konzerte und Ausstellungsbesuche ohne Notizblock, auf das Lesen vieler Bücher und auf Restaurantbesuche. Ohne den nach einer Weile stets erschrockenen Blick auf die Armbanduhr. Erst jetzt, in diesen Wochen der Erholung und Erbauung begann er, die immer wieder bemühte und längst ausgelutschte Phrase vom süßen Nichtstun, vom
dolce far niente in ihrem ganzen Ausmaß zu begreifen. Es tat ihm einfach gut.
Er hätte auch richtig zur Ruhe kommen können, hätte nicht Carlotta sein Leben so grundsätzlich durcheinandergewirbelt und würde ihm diese Beziehung nicht gerade jetzt einigen Kummer bereiten.
Vor allem der Journalist in ihm staunte: Zum einen darüber, wie wenig Nachrichten am Tage man zu seinem Wohlbefinden wirklich brauchte, und zum anderen darüber, dass er tatsächlich seit dem 1.
Juli noch nicht einmal mit dem Münchner Boten Kontakt aufgenommen hatte.
Umso mehr überraschte ihn an diesem Morgen der Anruf von Alexander Ringhofer. Ringhofer war ein Kollege aus seiner Zeit beim Feuilleton. Stadler schätzte seine sanfte und zurückhaltende Art, Ringhofer war kein Polterkopf und kein Besserwisser, aber ein exzellenter Kenner der Kunstszene. Ringhofer rief von Zuhause aus an.
„Was verschafft mir die Ehre, Alexander“, fragte Stadler mit einem Anflug von Heiterkeit. Der Gedanke gefiel ihm, dass gerade jetzt in der Redaktion der Arbeitstag begann, während er sich den Kopf zerbrach, wie er sich am wohltuendsten zerstreuen konnte.
„Na sag mal, du liest wohl deine dienstlichen Mails gar nicht mehr“, begann Ringhofer, und Stadler merkte sofort am ungewohnt aufgeregten und leicht vorwurfsvollen Tonfall, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
„Entschuldige, Alexander, ich will ja keinen Neid wecken, aber ich bin für längere Zeit in Urlaub.“
„Ja. Ich weiß doch. Aber warst du es nicht, der mir einmal beigebracht hat, dass man mindestens einmal täglich seinen Account prüft, weil das die Kollegen vom Politikressort stündlich machen?“
Stadler lachte leise auf. „Daran erinnerst du dich? Menschenskinder! Aber das waren auch noch andere Zeiten.“Er wollte seinem Kollegen, den er durchaus schätzte, nicht auf die Nase binden, dass er seinen Dienst-Laptop mit dem letzten Paket von Rom aus an Renate Hausdörfer geschickt hatte. Nun würde dieser irgendwo in seinem Vaterhaus stehen.
„Aber worum geht es dir denn? Du rufst mich ja sicherlich nicht an, um mich an eine verpasste E-Mail zu erinnern.“
„Nein.“Ringhofer klang gequält. „Oder doch. Jedenfalls, bei uns hier in München steht die Medienwelt kopf.“