Ostthüringer Zeitung (Schleiz)
„Staatlicher Menschenhandel“
Die steigenden Flüchtlingszahlen aus Belarus in die Europäische Union und nach Deutschland alarmieren die Bundesregierung. Bundespolizei fordert Grenzkontrollen
Der Zustrom von Tausenden Flüchtlingen über die neue Osteuropa-Route nach Deutschland reißt nicht ab. Täglich werden in Vorpommern, Brandenburg und Sachsen 150 bis 200 Flüchtlinge aus dem Nahen Osten aufgegriffen, die illegal über die polnische Grenze gekommen sind – Endstation einer Reise über den osteuropäischen Krisenstaat Belarus, dessen Machthaber Alexander Lukaschenko Migranten gezielt in die EU schleust.
Nachdem die Bundespolizei insgesamt mehr als 4500 Flüchtlinge registriert hat, die über die Ost-Route kamen, schlagen Politiker in Berlin und Brüssel jetzt Alarm: Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) will am Mittwoch im Kabinett einen Notfallplan beraten, wie auf die Lage reagiert werden soll. Schleierfahndungen im Grenzgebiet zu Polen gibt es bereits. Die Gewerkschaft der Bundespolizei fordert nun aber auch umfassendere Kontrollen an den eigentlich offenen Grenzübergängen zu Polen. Nur so könne die Bundesregierung einem Kollaps an den Grenzen wie 2015 vorbeugen, warnt Gewerkschaftschef Heiko Teggatz.
Fluglinien, die Flüchtlinge nach Minsk bringen, sollen sanktioniert werden
Wegen der Flüchtlingssituation berieten die EU-Außenminister am Montag in Luxemburg über neue Maßnahmen gegen den belarussischen Machthaber und sein Regime. Außenminister Heiko Maas (SPD) sagte: „Lukaschenko ist nichts anderes als der Chef eines staatlichen Schleuserrings.“Er benutze Flüchtlinge als Instrument, um Druck auf europäische Staaten auszuüben. Maas und seine Kollegen bereiten unter anderem Sanktionen gegen Fluggesellschaften vor, die die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten nach Minsk bringen, von wo sie dann weiter an die EU-Grenze geleitet werden.
Die EU hatte die belarussische Fluggesellschaft Belavia zwar schon im Mai mit einem Flugverbot belegt, doch sehen die Außenminister mit Sorge, dass Airlines auch aus der EU Belavia unter die Arme greifen, etwa mit dem Leasing von Flugzeugen oder technischer Hilfe. Im Visier ist vor allem Irland. Maas sagte, die EU werde nicht weiter zusehen, wie europäische Fluggesellschaften mit den Aktionen auch noch Geld verdienten. Der Grünen-Außenpolitiker Reinhard Bütikofer fordert ein Verbot, der Belavia Maschinen zur Verfügung zu stellen, nachdem diese damit den „staatlichen Menschenhandel von Lukaschenko organisiert“hat.
Die „zynische Praxis“müsse „umgehend beendet werden“, sagte Bütikofer unserer Redaktion.
In der Bundesregierung und in Brüssel gibt es längst keinen Zweifel mehr, dass Machthaber Lukaschenko die Migranten gezielt einsetzt, um die Europäische Union zu provozieren. Es ist offenkundig die Vergeltung für jene Sanktionen gegen Vertreter seines Regimes, die die EU im Mai beschlossen hatte. Zuvor war eine Ryanair-Maschine auf dem Weg nach Litauen in Belarus zur Landung gezwungen worden, um einen Regimekritiker zu verhaften. Lukaschenko hatte erklärt, er werde Migranten nicht mehr an der Weiterreise hindern. „Wir haben normalerweise Migranten in Scharen geschnappt“, sagte Lukaschenko seinerzeit im Minsker Parlament. An die Adresse der EU fügte er hinzu: „Vergesst das, ihr werdet sie selber fangen müssen.“
Belarus lässt Passagiere aus Moskau oder Dubai ohne Visa ins Land
Kurz darauf begannen die auffallend zahlreichen Flüchtlingsflüge unter anderem von Bagdad und Istanbul Richtung Belarus, an Bord Menschen aus dem Irak, aus Syrien, dem Iran und Jemen, inzwischen auch aus Afghanistan. Passagiere aus dem Irak berichten, sie hätten in ihrer Heimat quasi im Reisebüro regelrechte Schleusungspakete für 5000 bis 6000 Euro gebucht. Die Migranten werden, zum Teil organisiert mit Bussen, an die
Westgrenze zu Polen, Litauen und Lettland gebracht, wo sie oft mit Hilfe belarussischer Soldaten zu Tausenden EU-Gebiet erreichen und später auch nach Deutschland weiterziehen.
Zugleich lässt Belarus auch Flugpassagiere aus Moskau oder Dubai ohne Visa ins Land und dann gern illegal über die Europäische Union wieder ausreisen. Polen und Litauen haben wegen der vielen illegalen Grenzübertritte den Notstand ausgerufen und setzen auf Abschottung: Zäune werden errichtet oder verstärkt, Tausende Soldaten sind im Einsatz. Polen steht wegen eines sehr harschen Vorgehens gegen die Flüchtlinge massiv in der Kritik, es gibt immer wieder Berichte von gewaltsamen Zurückweisungen.
Nach dem Tod von fünf Migranten im Grenzgebiet reiste EU-Innenkommissarin Ylva Johansson nach Warschau, um die Einhaltung von Menschenrechten anzumahnen. Sowohl die Bundesregierung als auch die EU versuchen, die Transitstaaten zu einem Stopp der Migrantentransporte zu bewegen.
Der Zustrom aus dem Irak hat auch abgenommen. Doch jetzt gibt es ein viel größeres Problem, das die Bundesregierung nervös macht: Das Regime in Minsk lockert seine Visaregeln, Touristenvisa soll es auch für Menschen aus Pakistan oder Ägypten geben. Eine neue Migrationsroute von Pakistan über Belarus in die EU würde den Flüchtlingsdruck auch auf Deutschland massiv erhöhen.