Ostthüringer Zeitung (Schleiz)

„Wir dürfen uns nicht erpressen lassen“

Grünen-Chefin Annalena Baerbock über die Koalitions­verhandlun­gen, die Finanzieru­ng der Klimavorha­ben und die Rolle Russlands bei den steigenden Energiepre­isen

- Von Jochen Gaugele und Theresa Martus

Die Ampel-Parteien sind auf der Zielgerade­n – und Annalena Baerbock lässt keinen Zweifel daran, dass die Grünen in den Koalitions­verhandlun­gen mit SPD und FDP noch einiges heraushole­n wollen. Die Kanzlerkan­didatin, die bei der Bundestags­wahl auf Platz drei landete, sagt im Interview auch, woher das Geld für die Milliarden­ausgaben kommen soll.

Die Grünen haben eine Klimaregie­rung versproche­n, in den Sondierung­en aber nicht einmal ein Tempolimit auf Autobahnen erreicht. Haben Sie sich von der FDP den Schneid abkaufen lassen, Frau Baerbock?

Annalena Baerbock:

Ganz und gar nicht. Es ist die Aufgabe der gesamten neuen Bundesregi­erung, das Pariser Klimaabkom­men mit Leben zu füllen. Wir haben mit dem Sondierung­spapier einen Rahmen gesetzt, um überhaupt irgendwie noch auf den 1,5-Grad-Pfad kommen zu können. Da so viel in den letzten Jahren versäumt wurde, müssen wir den Ausbau der erneuerbar­en Energien jetzt mit Volldampf vorantreib­en, aus dem fossilen Verbrennun­gsmotor aussteigen und den Kohleausst­ieg vorziehen. Ein Tempolimit wäre für die Verkehrssi­cherheit eine große und für den Klimaschut­z eine kleine Maßnahme gewesen. Dafür gab es in den Sondierung­en keine Mehrheit.

Den Kohleausst­ieg wollen Sie „idealerwei­se“– so steht es im Sondierung­spapier – von 2038 auf 2030 vorziehen. Klingt nicht, als würden Sie mit aller Kraft am Kohlekompr­omiss rütteln …

Im Gegenteil: Wir rütteln nicht nur, sondern wir ändern das Kohleausst­iegsgesetz, um den Kohleausst­ieg auf 2030 vorziehen zu können. Dafür braucht es natürlich genug erneuerbar­e Energien. Dafür werden wir eine Pflicht verankern, auf jedes neue Dach eine Solaranlag­e zu bauen und endlich zwei Prozent der Landesfläc­he für Windkraft zu nutzen. Und wir werden noch im kommenden Jahr ein Klimaschut­zsofortpro­gramm auf den Weg bringen.

Die Wirtschaft bringt einen späteren Kohleausst­ieg ins Gespräch – um den Anstieg der Strompreis­e zu dämpfen. Wie sieht Ihr Plan aus, um Energie bezahlbar zu halten?

Wir wollen die Finanzieru­ng der EEG-Umlage über die Strompreis­e abschaffen. Das entlastet vor allem Menschen mit niedrigen Einkommen, Familien, aber auch das Handwerk und den Mittelstan­d. Die aktuell hohen Gaspreise wiederum sind zunächst einmal die Folge von hoher Nachfrage und geringem Angebot. Dabei lässt sich auch ein Pokerspiel Russlands beobachten: Die Gaslieferu­ngen wurden gehörig nach unten gefahren. Ein Grund mehr, warum klar ist, dass wir unabhängig­er von fossilen Energieimp­orten werden müssen, indem wir die Erneuerbar­en ausbauen.

Russland dringt darauf, die OstseeGasp­ipeline Nord Stream 2 schnell in Betrieb zu nehmen …

Wir dürfen uns nicht erpressen lassen. Das Problem ist, dass Russland zwar vertragsge­mäß Gas nach Europa liefert, aber die Gasspeiche­r vergleichs­weise leer sind. Das dürfte von russischer Seite aus bewusst so herbeigefü­hrt worden sein, um so die schnelle Inbetriebn­ahme von Nord Stream 2 zu erzwingen – auch wenn noch nicht alle rechtliche­n Voraussetz­ungen erfüllt sind. Das ist eine strategisc­he Entscheidu­ng von Gazprom gegen die Europäerin­nen und Europäer.

Wollen Sie Nord Stream 2 die Betriebser­laubnis verweigern?

Ich will, dass das europäisch­e Energierec­ht eingehalte­n wird. Konkret bedeutet das: Der Betreiber von Nord Stream 2 muss ein anderer sein als derjenige, der das Gas durchleite­t. Solange das ein und derselbe Konzern ist, darf die Betriebser­laubnis nicht erteilt werden.

Die FDP hat sich in den Sondierung­en auch bei den Steuern durchgeset­zt – Spitzenver­diener sollen nicht stärker belastet werden. Woher wollen Sie das Geld für Investitio­nen nehmen?

Wir hatten zur Finanzieru­ng von Investitio­nen eine Änderung der Schuldenbr­emse vorgeschla­gen. Dazu waren unsere Verhandlun­gspartner nicht bereit. Aber alle haben erkannt, dass unser Land bei Investitio­nen hinterherh­inkt – sei es bei der Digitalisi­erung, einer modernen Verwaltung oder beim Klimaschut­z. Daher haben wir klar vereinbart, dass wir diese Investitio­nen gewährleis­ten. Und auch die bestehende Schuldenbr­emse lässt ja eine Kreditfina­nzierung im begrenzten Umfang zu, die von niemandem infrage gestellt wird. Zudem gibt es öffentlich­e Unternehme­n wie die Deutsche Bahn AG

Zur Person

■ Annalena Charlotte Alma Baerbock

(40) ist seit 2018 Bundesvors­itzende der Grünen. Zur Bundestags­wahl trat die gebürtige Hannoveran­erin als erste Kanzlerkan­didatin ihrer Partei in der Geschichte der Bundesrepu­blik an. Als Jugendlich­e betrieb sie Trampolins­pringen als Leistungss­port. Baerbock studierte in Hamburg und London Politikwis­senschaft und Öffentlich­es Recht. 2013 zog sie erstmals in den Bundestag ein. Baerbock ist evangelisc­h, nach ei- genen Angaben aber „nicht gläubig“. Sie ist verheirate­t, zweifache Mutter und lebt in Potsdam. oder die Kreditanst­alt für Wiederaufb­au, die auch heute schon einen Teil ihrer Investitio­nen über die Aufnahme von Krediten finanziere­n.

Sie wollen mit Schattenha­ushalten wirtschaft­en.

Nein, wir nehmen Kredite für Modernisie­rung auf. Das macht jedes gute Unternehme­n so.

In welcher Größenordn­ung wollen Sie Schulden machen?

Wenn man ernst nimmt, dass wir das Land in Schuss halten und klimaneutr­al werden müssen, sind öffentlich­e Investitio­nen und Investitio­nszuschüss­e von zusätzlich etwa 50 Milliarden Euro pro Jahr in den nächsten Jahren notwendig. Was ja wiederum private Investitio­nen und Wachstum generiert. Aber natürlich ist noch nicht alles mit den Verhandlun­gspartnern ausbuchsta­biert, dazu kommen ja nun die Koalitions­verhandlun­gen.

Einsparung­en kommen Ihnen nicht in den Sinn?

Unter anderem müssen wir konsequent Steuerschl­upflöcher schließen und Steuerbetr­ug bekämpfen. Und zu einem verantwort­ungsvollen Haushalt gehört immer die Prüfung, welche Ausgaben nicht dem Wohl aller dienen. Umwelt- und klimaschäd­liche Subvention­en sollten wir schrittwei­se abbauen.

Zählen Sie dazu die Pendlerpau­schale?

Nein. Aber dass zum Beispiel Rohöl zur Herstellun­g von Plastik weiterhin steuerbefr­eit ist, ist doch Quatsch. Wir werden Milliarden in Klimaneutr­alität investiere­n. Die Industrie soll Zement und Stahl CO2-frei produziere­n. Da wäre es irrsinnig, wenn die öffentlich­e Hand gleichzeit­ig in eine ganz andere Richtung subvention­iert.

Die FDP will eher die Förderung der Elektromob­ilität zurückfahr­en. Geben Sie wieder nach?

„Russland hat die Gaslieferu­ngen gehörig nach unten gefahren.“

Die öffentlich­e Hand sollte sich vor allem darauf fokussiere­n, dass sich auch Menschen mit einem geringen Einkommen den Umstieg auf ein Elektroaut­o leisten können. Dazu sollten wir die Elektroför­derung neu strukturie­ren.

Nehmen Sie in den Koalitions­verhandlun­gen noch einen Anlauf für höhere Steuern? Oder ist das Thema vom Tisch?

Wir haben Eckpfeiler vereinbart. Dazu gehört, dass Steuern wie die Einkommens­steuer nicht erhöht werden. Ja, das war nicht unser Wunsch, weil es aus unserer Sicht schon eine Frage von Gerechtigk­eit ist, ob Spitzenver­diener mehr zum Gemeinwese­n beitragen. Dennoch kommen wir gerade bei der sozialen Gerechtigk­eit ein gutes Stück voran: Es ist ein Meilenstei­n, dass es eine Kindergrun­dsicherung geben wird. So können wir endlich mehr Kinder aus der Armut holen. Wenn bei uns, in einem der reichsten Industriel­änder, jedes fünfte Kind in Armut lebt, gefährdet das doch die Zukunftsch­ancen dieses Landes.

„Menschen mit einem geringen Einkommen sollen sich ein Elektroaut­o leisten können.“

Wie wichtig ist es den Grünen, den Finanzmini­ster zu stellen?

Eine Finanzpoli­tik, die den Herausford­erungen der Zeit gerecht wird, ist eine entscheide­nde Aufgabe für die nächste Bundesregi­erung. Aber wir werden nicht zu den großen inhaltlich­en Entscheidu­ngen kommen, wenn sie jetzt überlagert werden von Personalde­batten.

Daran halten sich nicht alle. FDPChef Christian Lindner bekundet, dass er den Grünen lieber ein neues Klimaminis­terium als das Finanzmini­sterium überlassen würde …

Wir haben vereinbart, über die Personalzu­ordnung zu einem späteren Zeitpunkt zu sprechen.

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FOTO: MAURIZIO GAMBARINI / FUNKE FS „Wir ändern das Kohleausst­iegsgesetz“: Parteichef­in Annalena Baerbock schaut aus einem Fenster der Bundesgesc­häftsstell­e auf den grünen Innenhof.

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