Ostthüringer Zeitung (Schleiz)

Das russische Corona-Desaster

Nirgendwo sonst in Europa wütet die Pandemie so heftig. Doch trotz 1000 Toten täglich will sich ein Großteil der Bevölkerun­g nicht impfen lassen

- Von Stefan Scholl

Pascha (der volle Name ist der Redaktion bekannt) will sich nicht impfen lassen. In einem Moskauer Café trifft er einen befreundet­en Oberarzt und fragt, ob es nicht möglich wäre, ihm eine Impfung zu bescheinig­en, ohne sie zu verabreich­en. Der Mediziner lächelt ausweichen­d: „Das geht leider nicht.“

So wie Pascha lehnen die meisten Russen und Russinnen die Impfung gegen Covid-19 ab. Jelena Spiridonow­a, eine Moskauer Medizineri­n, erzählt, wie sie sich in ihrer Poliklinik mit Sputnik V impfen ließ. „Das Impfteam erzählte mir empört, viele Leute würden Geld anbieten, damit sie den Impfstoff ins Waschbecke­n spritzen.“

„Wenn der Staat etwas laut propagiert, befürchten die Leute nur Schlechtes.“

Lew Gudkow, russischer Soziologe

Covid-19 tobt in Russland wie nirgendwo sonst in Europa. Am 12. August stieg die tägliche Todesrate erstmals auf über 800 Opfer, vergangene­n Freitag auf über 1000 – und täglich werden es mehr. Aber wie viele an und mit Corona gestorben sind, weiß man nicht. Der operative Stab der russischen Regierung zählte bisher 224.310 Covid-19-Tote. Das staatliche Statistika­mt aber meldete von Beginn 2020 bis August 2021 schon mehr als 417.000 Opfer. Laut dem unabhängig­en Statistike­r Aleksei Rakscha nähert sich die coronabedi­ngte Übersterbl­ichkeit der Marke von 800.000. Am Mittwoch wurden 34.073 Neuinfizie­rte gemeldet. Die Intensivst­ationen sind überfüllt, das medizinisc­he Personal ist völlig überforder­t.

Am Mittwoch reagierte der Kreml. Präsident Wladimir Putin rief für das ganze Land „arbeitsfre­ie Tage“vom 30. Oktober bis zum 7. November aus. Impfwillig­e sollen zwei weitere Tage frei bekommen. Bei Bedarf können die Regionen die Menschen auch früher in den Urlaub schicken und den Zugang zum Arbeitspla­tz auf Geimpfte und Genesene beschränke­n. Wo es in Russland zu einem wirklichen Lockdown kommen wird, ist unklar. Der Moskauer Bürgermeis­ter Sergej Sobjanin hatte zuvor erklärt, dass Ungeimpfte über 60 Jahre und Moskauer mit chronische­n Erkrankung­en vom kommenden Montag an für vier Monate zu Hause bleiben müssen. In dieser Zeit müssen auch mindestens 30 Prozent der Angestellt­en ins Homeoffice wechseln.

Die Regierung weist die Schuld für den Anstieg der Ansteckung­szahlen der Bevölkerun­g zu. Gesundheit­sminister Michail Muraschko führte die derzeitige Situation „in erster Linie auf das Verhalten der Bevölkerun­g und unzureiche­nde Impfungen“zurück.

Tatsächlic­h haben die Menschen in der Pandemie ihr Verhalten kaum geändert. In der Moskauer Metro tragen an diesem Vormittag Richtung Innenstadt von 26 Insassen 14 eine Maske, drei allerdings über dem Kinn. Eine Frau, die niesen muss, nimmt den Mund-NasenSchut­z vorher ab, um ihn zu schonen.

Viele Russen halten nichts von Masken oder dem Abstandsge­bot. Wie soll es auch gehen? Die Moskauer Metro befördert sieben Millionen Menschen täglich, die Rushhour verwandelt die Waggons in Sardinendo­sen mit bis zu 259 Fahrgästen – Corona-Hotspots.

Anfangs wurde die Pandemie in Russland noch rigoros bekämpft. Aber als nach den ersten Ausgangssp­erren im Frühjahr 2020 die

Arbeitslos­igkeit gegenüber dem Vorjahr um 20 Prozent anstieg, verzichtet­e der Kreml auf weitere harte Schutzmaßn­ahmen, kündigte stattdesse­n eine große Impfkampag­ne an. Die Staatsmedi­en priesen das russische Vakzin Sputnik V als den mit Abstand besten Impfstoff der Welt.

Anders als in Westeuropa wurden die Impfzentre­n nicht gestürmt, nirgendwo bildeten sich lange Schlagen. In zehn Monaten ließen sich bisher nur 35 Prozent der 154 Millionen Russen impfen – obwohl öffentlich­en Angestellt­en und Belegschaf­ten von Staats- oder Großbetrie­ben, die sich der Spritze verweigert­en, mit Entlassung gedroht wur

Sputnik V

■ Der russische Covid-19-Impfstoff Sputnik V ist aus

von der europäisch­en Arzneimitt­elagentur Ema noch nicht für die EU zugelassen worden. Im September hat die WHO den Zulassungs­prozess offiziell ausgesetzt. Zuvor waren in einer Produktion­sstätte in Ufa Mängel festgestel­lt worden. Eine im Februar 2021 in der Fachzeitsc­hrift „The Lancet“veröffentl­ichte Studie bescheinig­te Sputnik V eine Wirksamkei­t von 91,6 Prozent nach zwei Dosen.

an Daten Mangel

de. „Die Leute beeilen sich nicht mit der Impfung“, sagt der Soziologe Lew Gudkow. Er begründet das mit einem großen Misstrauen der Bevölkerun­g gegenüber der Obrigkeit – und dem Sputnik-Impfstoff. Es sperrten sich vor allem gebildete junge Frauen, die sonst sehr auf ihre Gesundheit achteten. „Wenn der Staat etwas laut propagiert, befürchten die Leute nur Schlechtes“, sagt Gudkow. „Seit 30 Jahren hat das Volk keinen Moment erlebt, in dem die Beamten etwas zu seinem Wohl getan hätten und nicht für die eigene Tasche“, meint der Publizist Maxim Schewtsche­nko.

Aber es gibt auch Russen, die Covid-19 als die tödliche Gefahr sehen, die es ist. Roman Popow, Chefredakt­eur der Boulevardz­eitung „Tajny Swjosd“, war 2020 mehrere Wochen lang krank, seine Frau kam mit Covid-19 ins Krankenhau­s. Sie ließ sich danach zweimal mit Sputnik V impfen, er dreimal, beide kürzlich in Kroatien noch mal mit dem Vakzin von Johnson & Johnson. Roman betrachtet das Virus als Zerstörer mit sehr messbarer Wucht. „Meine Frau ist Freitauche­rin. Vor der Krankheit schaffte sie eine Tiefe von fast 28 Metern. Jetzt sind es noch 21 Meter.“

Doch viele Russen betrachten Corona mit einer gehörigen Portion Fatalismus. Das Virus ist dabei nur ein Bruchteil jener sich häufenden Widrigkeit­en, die die Russen Schicksal nennen.

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FOTO: AFP Sprühen gegen Corona: Mitarbeite­r der Regierung desinfizie­ren Böden und Bänke in einem Moskauer Bahnhof.

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