Ostthüringer Zeitung (Schleiz)

In der Gleichförm­igkeit der ostdeutsch­en Provinz Erfurter Herbstlese

Der aus Sachsen stammende Autor Lukas Rietzschel analysiert in seinem Roman die Nachwende-Zeit

- Von Karsten Jauch

Natürlich erinnern sie an Kosmonaute­n, all die Figuren, die ihr Leben durch Kamenz schleppen – eine Stadt im Ableben, wie der Begriff Kosmonaut, der kaum noch Verwendung findet.

So erlebt Jan, die Hauptfigur in Lukas Rietzschel­s Roman, seine Eltern schwebend in einer Zwischenwe­lt, „ihrem Ausgangspu­nkt entrissen“. Sie strecken die Arme aus, es geht weder vor noch zurück. „Und Jan stand auf der Erde und richtete sein Glas auf sie.“Jan arbeitet als Pfleger in einem Krankenhau­s, das kurz vor der Schließung steht. Ein Patient, Thorsten, gibt ihm eine Schachtel mit Notizen und Dokumenten. Für Jan beginnt eine Spurensuch­e in die Vergangenh­eit. Denn dieser Patient hat einen Onkel, der es von Kamenz aus zu Weltruhm brachte: Georg Baselitz.

Eine große Sprachlosi­gkeit

30 Jahre nach der Wiedervere­inigung

Vor diesem Hintergrun­d entwickelt der Autor, der am 28. Oktober im Haus Dacheröden in Erfurt zu Gast ist, eine Handlung, die sich auf drei Zeitebenen erstreckt. Da wird die Geschichte der Brüder Günther und Georg Kern erzählt, die die DDR verlassen wollten. Georg geht nach Westberlin, ändert seinen Namen und wird Maler. Der Mauerbau verhindert Günthers Flucht in den Westen. Er bleibt in Kamenz, erlebt eine Tragödie und wird von der Stasi bespitzelt.

Genau da setzt die zweite Ebene ein: Jans Familie ist in die Operatione­n der Stasi verstrickt. Ist das der Grund für die Trennung der Eltern? Seine Fragen bleiben unbeantwor­tet. Der Vater sagt: Lass es ruhen.

Es ist ein großes Schweigen, in das die Sprachlosi­gkeit 30 Jahre nach der Wiedervere­inigung eingebunde­n wird und sich als dritte Erzähleben­e ausbreitet: „Ich lasse mir von einem Wessi nicht meine Geschichte erzählen“, ärgert sich Jans Vater. Seine Eltern hatten keine Möglichkei­t, dagegenzuh­alten: „Sie besaßen kein Sprachrohr“.

Und das wird mit lakonische­n Bemerkunge­n, wie sie nur im Osten vorkommen, erklärt. „Lebensleis­tung anerkennen, das war zum Beispiel so eine Phrase, die sich der Westen ausgedacht hatte.“Da müsse er wohl eine Lebensleis­tungsurkun­de suchen, sagt Lukas zum Vater – und sie stoßen mit einem Landskron-Bier an. Jan, die Hauptfigur, macht seinen Eltern keine Vorwürfe. Da gibt es kein bestürzend­es Aufbegehre­n, wie bei den 68ern im Westen, sondern Mitleid.

Es ist keine bestürzend­e Analyse, die der 27-jährige Schriftste­ller Lukas Rietzschel in seinem Roman vornimmt. Es ist vielmehr die Beschreibu­ng einer Landschaft, einer Generation, die nichts zu erwarten hat, weder einen Abriss, noch einen Aufbau. Kamenz: Lessingsta­dt der Leere. Es ist die Gleichförm­igkeit der ostdeutsch­en Provinz: Ein bisschen depri, aber voller Heimatlieb­e.

Lukas Rietzschel: Raumfahrer, Verlag dtv, 288 Seiten, 22 Euro Lesung: Donnerstag, 28. Oktober, Erfurt, Haus Dacheröden, 19.30 Uhr

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