Ostthüringer Zeitung (Schleiz)
Buchtipps Nicht nur Skandale im großen Kleinstadt-Theater
Carola Scherzer wirft Schlaglichter auf Meiningens Kultur- und Bühnengeschichte. Begegnungen mit grandiosen Akteuren
Am Meininger Theater sind oft schon die Fetzen geflogen. Nein, nicht der „Lappen“, der allabendlich vor der Bühne hochgeht, ist gemeint, sondern der forcierte Kunst-Disput eines leidenschaftlichen und stolzen Kleinstadt-Publikums. Carola Scherzer, bis zur Wende Pressedramaturgin am Haus, danach Redakteurin beim Tageblatt, lässt nun in ihrem Buch so manches davon Revue passieren – vorwiegend aus der jüngeren Zeit des altehrwürdigen Musentempels, wo vielfache Avantgarde zuhause war.
Und die Gemüter – so oder so – erregte. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit widmet die eher konservativ gepolte Scherzer diesem und jenem ein Kapitel: dem „Theaterherzog“Georg II. zu allererst, dessen legendäre Schauspieltruppe in halb Europa auf Tournee reüssierte, dem Wagner-Dirigenten Hans von Bülow, dessen Enkel Vicco, alias Loriot, für Flotows „Martha“skandalfrei Regiehand anlegte, Christine Mielitz, Alfred Hrdlicka und natürlich dem leuchtendsten Stern am Meininger Dirigentenpult: dem heutigen Chef der Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko.
Dazu einige der Alten, die, Klassiker längst, sich und der
Stadt Ehre machten: Schiller, Goethe, Jean
Paul, Baumbach, Reger und Bechstein zum Beispiel, die nicht allesamt unmittelbar lokale Theaterbezüge aufwiesen. (Schiller kam seinerzeit als Flüchtling und ging als Zechpreller.) Spannender sind die aus eigenem Erleben gespeisten Histörchen und Gespräche zu lesen: etwa mit Solter, Esche, Karrusseit oder Weckwerth. Man muss diese Schmökerei allerdings gut dosieren, um daran nicht zu ermüden.
Und wo bleiben da die Skandale? Scheinwerfer auf Rolf Hochhuth! Den alt gewordenen Rebell hatte Schleefs Berliner Uraufführung seiner „Wessis in Weimar“derart erzürnt, dass er gern Gelegenheit nahm, sie nach seinem Gutdünken in Meiningen zu inszenieren. Die Replik auf den Skandal zog allerdings lange Fäden.
Ziemlich unterbelichtet bleibt die kurze Ära Res Bosshart. Der Intendant aus der Schweiz hat mit jungen
Wilden des Regietheaters die Stadt in hellen Aufruhr versetzt. Freaks wie Sebastian Baumgarten oder Jan Dvorak (Kommando Himmelfahrt) haben da auch Geschichte(n) gemacht. Als man Bosshart den Stuhl vor die Tür setzte, sprach die ganze Republik von ihren Erfolgen – nur die Meininger (bis heute) nicht.
Aber falls der Neue, Jens Neundorff, daran anknüpfen sollte, bedeutet das, verehrte Kollegin: Den „Lappen“hoch! Fortsetzung folgt!
Carola Scherzer: Ach, ein Theater haben Sie auch? Künstler in Meiningen. Verlag Neues Leben, 224 Seiten, 22 Euro