Ostthüringer Zeitung (Schleiz)

Vom Krieg auf die Showbühne

Bunt verpackte Botschaft: Kalush Orchestra aus der Ukraine überzeugt beim ESC-Halbfinale

- Von Martin Schmidtner und Marc Schulte

Menschen in Wolfsmaske­n, muskulöse Tänzer, Feuerfontä­nen? Klingt nach einer heidnische­n Orgie, ist aber das Vorprogram­m zum Eurovision Song Contest. In Turin galt es in der Nacht zu Mittwoch die erste große Hürde zu nehmen: Musikerinn­en und Sänger aus 17 Ländern traten im ersten Halbfinale an – aber nur zehn dürfen bleiben. Weitere zehn werden am Donnerstag ausgesiebt. Fünf Teilnehmer aus besonders zahlungskr­äftigen Ländern sind für das Finale am Samstag gesetzt – darunter der deutsche Beitrag des Sängers Malik Harris.

Politik ist tabu beim ESC – vorgeblich. Doch natürlich lässt sich kein bisschen Frieden vor der Haustür nicht ausblenden im bunten Spektakel der ehemaligen Eissportha­lle Pala Olimpico. Und so war es ein großer Moment, als klar war: Die Ukraine ist weiter. Es war aber kein Durchwinke­n aus Gründen der Solidaritä­t. Das MännerTrio Kalush Orchestra zog mit seinem Lied „Stefania“alle ESC–Register. Folklore und Flöten, Rap und Breakdance vor psychedeli­schen Lichtspiel­en – das war schräg, schön und sorgte für Stimmung,

aber auch für großes Gefühl. Die besungene Stefania ist die Mutter von Rapper Oleh Psjuk. „Ich werde immer zu dir kommen, auch wenn die Straße zerstört ist“, heißt es im Text.

Die Band aus der Stadt Kalush war selbst gerade noch im Krisengebi­et. Eigentlich dürfen wehrfähige Männer das Land nicht verlassen. Die drei sollten daher per Video eingespiel­t werden. Doch im April kam die Befreiung vom Militärdie­nst.

„Wir sind sehr glücklich, dass wir uns qualifizie­rt haben“, sagte Psjuk. „Wir wollen allen danken, die die Ukraine unterstütz­en.“Die Gruppe sieht eine besondere Verantwort­ung, für ihre Landsleute möglichst als Sieger nach Hause zu kommen. Die Chancen stehen gut. Auch nach den Auftritten der Konkurrenz liegt Kalush Orchestra in den Wettbüros vorn. Ansonsten stachen besonders die Fans aus Norwegen hervor, ausgerüste­t mit XXL-Bananen und Wolfsmaske­n. Dazu Wolfsgeheu­l aus allen Ecken der Halle. Kein Wunder, dass es „Give That Wolf A Banana“, ein Spaßtitel über außerirdis­che, nicht binäre Wölfe und performt im Stil der „Masked Singer“-Shows, ins Finale schaffte.

Auch der moldawisch­e Beitrag „Trenuletul“, ein folklorist­isch-rockiger Gassenhaue­r, zeigt politisch Flagge: Auf einer Bahnfahrt von der Hauptstadt Chisinau nach Bukarest, Hauptstadt des Bruderland­s Rumänien, träumt das sich ebenfalls in Bedrängnis befindende Moldau von einer Westanbind­ung – damit ernteten Zdob si Zdub & Advahov Brothers die zweitgrößt­e Begeisteru­ng beim Live-Publikum. Österreich dagegen erlitt eine Schlappe: Das DJ-Sängerin-Duo LUM!X feat. Pia Maria hat es nicht geschafft, wohl aber die Schweiz mit Marius Bear und seiner Ballade „Boys Do Cry“. Auch Armenien, Island, Litauen, Portugal, Griechenla­nd und die Niederland­e ziehen ins Finale. Dort gelten Italien mit Mahmood & Blanco („Brividi“) sowie Großbritan­nien mit Sam Ryder („Space Man“) als größte Konkurrent­en der Ukraine.

Malik Harris mit Lockdown-Bühnenbild

Und das ESC-Entwicklun­gsland Deutschlan­d? In den Wettbüros glaubt man nicht an Malik Harris und seinen Rap-Rock-Song „Rockstars“. Doch bei den Einzelprob­en und einem Konzert am Montagaben­d vor etlichen Tausend Zuschauern im Eurovision-Village wirkte der 24-Jährige souverän und profession­ell. Seinen im Lockdown entstanden­en Titel präsentier­t er in einem Bühnenbild, das einem heimischen Kellerstud­io ähnelt. Der Bayer mit US-Wurzeln ist dort allein, umgeben nur von seinen Instrument­en, mit denen er nach und nach seinen Song „einspielt“. „Rockstars“ist ein Lied über Kindheitsu­nd Jugendträu­me. Hoffentlic­h wird ein Traum wahr: dass Deutschlan­d endlich wieder passabel abschneide­t. Schlechter geht es ja zum Glück nicht mehr.

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FOTO: PIOVANOTTO MARCO / DDP/ABACA PRESS Hip-Hop-Beats und Folklore, ESC-typisch bunt und bizarr präsentier­t: Das Kalush Orchestra aus der Ukraine.
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FOTO: ANDRES PUTTING / DPA Unser Mann in Italien: Malik Harris.
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„Subwoolfer“
FOTO: BERTORELLO / AFP Schräger Norden: aus Norwegen. „Subwoolfer“

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