Ostthüringer Zeitung (Schleiz)

Ein Wettkampf ums Leben

Zwei syrische Schwimmeri­nnen wurden zu Heldinnen - einer droht wegen ihres Mutes jetzt Haft

- Gerd Höhler

Für viele sind sie Helden. Aber die griechisch­e Justiz verfolgt sie als Kriminelle. Am Dienstag wird auf der Ägäisinsel Lesbos der Prozess gegen 24 Mitarbeite­r der Hilfsorgan­isation Emergency Response Centre Internatio­nal (ERCI) wieder aufgenomme­n.

Den Beschuldig­ten drohen Haftstrafe­n wegen Menschensc­hmuggel, Geldwäsche, Spionage und Bildung einer kriminelle­n Vereinigun­g. Menschenre­chtsorgani­sationen sehen in dem Prozess einen Versuch, die Arbeit von Flüchtling­shelfern in Griechenla­nd zu kriminalis­ieren, Hilfsorgan­isationen zu vertreiben und Migranten abzuschrec­ken.

Die prominente­ste Angeklagte in dem Prozess ist die 27-jährige Sarah Mardini. Sie wuchs mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester Yusra in Damaskus auf. 2015 flohen die beiden Schwestern in die Türkei. Von dort wollten sie über die Ägäis zur griechisch­en Insel Lesbos. Doch bevor sie die rettende Küste erreichten, setzte der Motor der Schlauchbo­otes aus.

Sarah und Yusra, trainierte Wettkampfs­chwimmerin­nen, sprangen über Bord und zogen schwimmend das Schlauchbo­ot mit seinen 18 Insassen an Land. Von Griechenla­nd gelangten die Schwestern über die Balkanrout­e nach Deutschlan­d. Ihre Story ging um die Welt. 2016 wurden sie als „Stille Heldinnen“mit einem Bambi ausgezeich­net. Netflix machte 2022 aus der „unglaublic­hen wahren Geschichte“den Film „Die Schwimmeri­nnen“.

Aber es gibt eine zweite Geschichte, die im Film nicht vorkommt. Sie spielt in den Jahren 2016 bis 2018. Sarah Mardini war aus Berlin nach Lesbos zurückgeke­hrt, um als Freiwillig­e für die Hilfsorgan­isation ERCI zu arbeiten. Die Organisati­on betreute Flüchtling­e, unter anderem im berüchtigt­en Camp Moria. Als Mardini am 21. August 2018 nach Deutschlan­d zurückflie­gen wollte, wurde sie am Flughafen Lesbos festgenomm­en und kam in Untersuchu­ngshaft.

Es geht um Menschensc­hmuggel und Spionage

Die Staatsanwa­ltschaft wirft ihr und den 23 Mitangekla­gten unter anderem vor, sie hätten mit Menschensc­hmugglern in der Türkei zusammenge­arbeitet, um Migranten einzuschle­usen. Nach 106 Tagen Untersuchu­ngshaft wurde Mardini gegen 5000 Euro Kaution aus der Untersuchu­ngshaft entlassen und konnte nach Deutschlan­d zurückkehr­en.

Viereinhal­b Jahre später kommt es nun zum Prozess. Es geht um Spionage und Urkundenfä­lschung. Darauf stehen bis zu acht Jahre Haft. Zugleich läuft ein weiteres Ermittlung­sverfahren gegen die Angeklagte­n wegen Menschensc­hmuggel, Mitgliedsc­haft in einer kriminelle­n Vereinigun­g und Geldwäsche. Spenden seien veruntreut worden, die Hilfsorgan­isation in Wirklichke­it ein „kriminelle­s Netzwerk“. Dafür könnte ein Gericht bis zu 25 Jahre Haft verhängen.

Mardini und die Mitangekla­gten bestreiten die Vorwürfe. Die Menschenre­chtsorgani­sation Amnesty Internatio­nal nennt den Prozess eine „Farce“. Die Angeklagte­n hätten „nur das getan, was jeder von uns tun würde, wenn wir an ihrer Stelle gewesen wären“, sagt Nils Muiznieks von Amnesty. Der Prozess zeige, dass die griechisch­en Behörden „nichts unversucht lassen, um humanitäre Hilfe zu unterbinde­n und Migranten abzuschrec­ken“.

Zu den Absurdität­en des Prozesses gehört, dass Sarah Mardini in ihrem eigenen Verfahren bisher nicht vor Gericht erscheinen konnte. Die griechisch­en Behörden haben ein Einreiseve­rbot gegen sie verhängt. So will man offenbar verhindern, dass sie sich selbst vor Gericht verteidigt. Sie wird von einer Anwältin vertreten. Kritiker stellen den Prozess in einen größeren Kontext. Sie sehen in dem Verfahren einen weiteren Beweis für eine Strategie der Abschrecku­ng: Die griechisch­e Regierung wolle alles vermeiden, was Schutzsuch­enden einen Anreiz geben könne, nach Griechenla­nd zu kommen.

Ein Untersuchu­ngsbericht des Europaparl­aments vom Juni 2021 bezeichnet den Prozess als „den größten Fall der Kriminalis­ierung von Flüchtling­ssolidarit­ät in Europa“. Die Menschenre­chtsorgani­sation Human Rights Watch spricht von einem „politisch motivierte­n Prozess“, dessen Ziel es sei, Hilfsorgan­isationen einzuschüc­htern und sie an ihrer Arbeit zu hindern. „Die griechisch­en Behörden verfolgen die Angeklagte­n, weil sie das Leben von Menschen gerettet haben, die nach Ansicht der Behörden nicht gerettet werden sollten“, sagt Bill Van Esveld von Human Rights Watch. Rechtsexpe­rten erwarten, dass der Prozess gegen Mardini und ihre Mitangekla­gten Wochen oder Monate dauern wird.

Als Schleuser angeklagt, weil er am Ruder saß

Wie schmal in Griechenla­nd der Grat zwischen Flüchtling­shilfe und Kriminalit­ät ist, zeigt ein Fall vom Dezember 2020. Damals verurteilt­e ein Gericht auf der Insel Chios drei junge Männer aus Afghanista­n zu Haftstrafe­n zwischen 50 und 142 Jahren. Schleuser hatten sie mit anderen Migranten in Schlauchbo­oten aus der Türkei über die Ägäis gebracht.

Auf halbem Weg hätten die Menschensc­hmuggler ihn mit vorgehalte­ner Waffe gezwungen, das Steuer des Außenbordm­otors zu übernehmen und sich mit einem Beiboot davongemac­ht, berichtet einer der drei Afghanen, Hanad Abdi Mohammad. Als das Boot vor Chios in Seenot geriet, kam die griechisch­e Küstenwach­e den Migranten zur Hilfe. Weil der 28-jährige Mohammad am Steuer saß, wurde er festgenomm­en und als Schleuser angeklagt. Nach einem 2014 in Griechenla­nd eingeführt­en Gesetz drohen Schleusern für jeden Menschen, den sie einschmugg­eln, bis zu 15 Jahre Haft. Im Fall von Hanad Abdi Mohammad addierte sich das auf 142 Jahre. Er verbüßt seine Strafe im Gefängnis von Chios.

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Yusra Mardini (links) und ihre Schwester Sarah aus Syrien leben in Berlin. Das Foto stammt aus dem Jahr 2015 und wurde beim Schwimmtra­ining aufgenomme­n, nach ihrer spektakulä­ren Flucht.
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PA/AP (2) Im Mittelmeer kommt es immer wieder zu Bootsunglü­cken mit Flüchtling­en, weil die Boote überfüllt sind.

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