Ostthüringer Zeitung (Schleiz)
Nach dem Aufstand: Bolsonaro unter Verdacht
Bei der Gewalt in Brasília gerät die Rolle des Sicherheitsapparats in den Blickpunkt. Ex-Staatschef in Klinik eingeliefert
Der Morgen danach begann in Brasília wie immer. Fast jedenfalls. Die U-Bahn fuhr, die Straßen waren verstopft in der Hauptstadt, die Menschen tranken an den Straßenständen ihren „cafezinho“, die Händler öffneten ihre Geschäfte. Nur die Hubschrauber, die über der Stadt kreisten, und die Sicherheitskräfte im Regierungsviertel und dem „Platz der Drei Gewalten“, den der Stararchitekt Oscar Niemeyer Ende der 1950er-Jahre entwarf, zeugten von den Vorkommnissen einen Tag zuvor. Und die 1200 Randalierer und Vandalen, die von der Polizei vorläufig festgenommen wurden, erzählen ein wenig die Geschichte dieses historischen Tages.
Unterdessen war die Politik mit den Aufräumarbeiten beschäftigt. Präsident Lula da Silva hielt am Vormittag seine erste Kabinettssitzung ab, der Oberste Gerichtshof ordnete die Auflösung aller Zeltstädte der Bolsonaro-Anhänger an. Der Gouverneur des Bundesdistrikts, Ibaneis Rocha, wurde von seinem Amt suspendiert. Und so begann sich die Schockstarre zu lösen, die dieser Angriff auf die demokratischen Institutionen in dem wichtigsten Land Lateinamerikas am Sonntag ausgelöst hatte.
Auch erste Vermutungen über die Hintergründe wurden angestellt. Vor allem warfen Medien und Analysten die Frage auf, wie sehr der frühere Präsident Jair Bolsonaro in die Organisation des Coups vom Sonntag verstrickt ist. Hat er aus Florida, wo er ein Exil gefunden hat, die Fäden heimlich gezogen? Wie sehr sind die Polizeieinheiten loyal zu Bolsonaro? Vor allem die Militärpolizei und die Sicherheitskräfte der Hauptstadt fielen am Sonntag durch Untätigkeit und manche gar durch Unterstützung der Angreifer auf. Bolsonaro selbst wurde am Tag nach den Krawallen in ein Krankenhaus in Florida eingeliefert. Wie die Tageszeitung „O Globo“berichtete, kam er mit „starken Bauchschmerzen“in das Advent Health Celebration Hospital in Orlando. Seine Ehefrau Michelle sagte, ihr Mann sei unter Beobachtung im Krankenhaus, aufgrund von Unterleibsbeschwerden, die von dem Messerangriff während des Präsidentschaftswahlkampfes im Jahr 2018 herrührten.
Was ist mit den Großgrundbesitzern und Großlandwirten, die alle Bolsonaro treu ergeben sind? Sind sie eventuell auch in die Gewaltexzesse verstrickt? Klar ist, dass die Mehrzahl der Bolsonaro-Wähler friedlich ist, aber es gibt eine radikale und gar nicht so kleine Minderheit, die in ihrer wirren Welt lebt und Lula lieber heute als morgen gestürzt, im Gefängnis oder auch tot sähe. Es scheint klar, dass es sich bei den Ausschreitungen um eine geplante und koordinierte Aktion handelt. Man bedenke nur, dass Andersen Torres, Bolsonaros früherer Minister für Justiz und öffentliche Sicherheit, als Sicherheitschef des Hauptstadtdistrikts agierte. Wie Bolsonaro floh Torres gerade am Sonntag in die USA. Die Lula-Regierung will einen internationalen Haftbefehl gegen ihn erwirken.
In der Regierung hatte es in den vergangenen Tagen Auseinandersetzungen darüber gegeben, wie man mit den Protesten umgehen solle: Justizminister Flávio Dino forcierte die Auflösung der Zeltstädte, weil sie „Terroristennester“seien. Doch Verteidigungsminister José Múcio konnte das verhindern. Er wollte offenbar einen offenen Konflikt mit den Militärs vermeiden. Auch Lula soll sich nach Medienberichten dagegen entschieden haben, den Ausnahmezustand auszurufen, weil dann automatisch das Militär zum Einsatz gekommen wäre. Aber er war sich vermutlich nicht sicher ob des Gehorsams. Es ist offensichtlich, dass hohe Militärs, zum Teil frühere Minister Bolsonaros, die Proteste still unterstützen. Ex-General Walter Braga, Bolsonaros ehemaliger Leiter des Präsidialamts, ermunterte in den sozialen Netzwerken die Protestierer in den vergangenen Tagen noch. Offensichtlich ist es Verteidigungsminister Múcio auch noch nicht gelungen, die unter Bolsonaro an wichtige Machthebel aufgestiegenen Militärs wieder zurückzustutzen. Wie stark die Unterstützung für den Ex-Offizier Bolsonaro unter den Uniformierten weiterhin ist, konnte man am Sonntag bestens sehen. Nach den Ausschreitungen sammelten sich einige der Aggressoren wieder vor der Garnison des Oberkommandos des Heeres in Brasília. Dort genießen sie ganz offensichtlich die heimliche Solidarität der Militärs. Als die Polizei das Camp der Bolsonaro-Unterstützer stürmen wollte, stellten sich Soldaten dazwischen.
Am Sonntagabend hatte Lula einige Zeit gebraucht, um sich von dem Schreck des Angriffs zu erholen. „So etwas hat es in der Geschichte Brasiliens noch nie gegeben“, sagte der linksliberale Präsident, der erst seit einer Woche amtiert. Eine derartige Verachtung der Demokratie und der drei Gewalten Exekutive, Judikative und Legislative sei einmalig. Bolsonaro hatte bis zuletzt zu Protesten gegen das Wahlergebnis aufgerufen. Daher warf Lula seinem Vorgänger am Sonntag auch vor, zu der „Invasion der drei Gewalten“angestachelt zu haben. Bolsonaro hatte in dem erbitterten Wahlkampf immer wieder mit einem Vergleich mit dem Kapitol-Sturm in den Vereinigten Staaten kokettiert und behauptet, das brasilianische Volk werde sich „die Wahl nicht stehlen lassen“.
Der Sturm auf die Institutionen der Demokratie wird noch lange nachwirken und mindestens die kommenden Monate das Land und seine 215 Millionen Einwohner in Atem halten. Und es zeigt sich jetzt, dass der hart erkämpfte und äußerst knappe Wahlsieg Lulas vor gut zwei Monaten wohl die leichtere Aufgabe war – verglichen mit dem, was den Präsidenten in den kommenden vier Jahren als Staatschef erwarten wird.