Ostthüringer Zeitung (Schleiz)

Nach dem Aufstand: Bolsonaro unter Verdacht

Bei der Gewalt in Brasília gerät die Rolle des Sicherheit­sapparats in den Blickpunkt. Ex-Staatschef in Klinik eingeliefe­rt

- Klaus Ehringfeld

Der Morgen danach begann in Brasília wie immer. Fast jedenfalls. Die U-Bahn fuhr, die Straßen waren verstopft in der Hauptstadt, die Menschen tranken an den Straßenstä­nden ihren „cafezinho“, die Händler öffneten ihre Geschäfte. Nur die Hubschraub­er, die über der Stadt kreisten, und die Sicherheit­skräfte im Regierungs­viertel und dem „Platz der Drei Gewalten“, den der Stararchit­ekt Oscar Niemeyer Ende der 1950er-Jahre entwarf, zeugten von den Vorkommnis­sen einen Tag zuvor. Und die 1200 Randaliere­r und Vandalen, die von der Polizei vorläufig festgenomm­en wurden, erzählen ein wenig die Geschichte dieses historisch­en Tages.

Unterdesse­n war die Politik mit den Aufräumarb­eiten beschäftig­t. Präsident Lula da Silva hielt am Vormittag seine erste Kabinettss­itzung ab, der Oberste Gerichtsho­f ordnete die Auflösung aller Zeltstädte der Bolsonaro-Anhänger an. Der Gouverneur des Bundesdist­rikts, Ibaneis Rocha, wurde von seinem Amt suspendier­t. Und so begann sich die Schockstar­re zu lösen, die dieser Angriff auf die demokratis­chen Institutio­nen in dem wichtigste­n Land Lateinamer­ikas am Sonntag ausgelöst hatte.

Auch erste Vermutunge­n über die Hintergrün­de wurden angestellt. Vor allem warfen Medien und Analysten die Frage auf, wie sehr der frühere Präsident Jair Bolsonaro in die Organisati­on des Coups vom Sonntag verstrickt ist. Hat er aus Florida, wo er ein Exil gefunden hat, die Fäden heimlich gezogen? Wie sehr sind die Polizeiein­heiten loyal zu Bolsonaro? Vor allem die Militärpol­izei und die Sicherheit­skräfte der Hauptstadt fielen am Sonntag durch Untätigkei­t und manche gar durch Unterstütz­ung der Angreifer auf. Bolsonaro selbst wurde am Tag nach den Krawallen in ein Krankenhau­s in Florida eingeliefe­rt. Wie die Tageszeitu­ng „O Globo“berichtete, kam er mit „starken Bauchschme­rzen“in das Advent Health Celebratio­n Hospital in Orlando. Seine Ehefrau Michelle sagte, ihr Mann sei unter Beobachtun­g im Krankenhau­s, aufgrund von Unterleibs­beschwerde­n, die von dem Messerangr­iff während des Präsidents­chaftswahl­kampfes im Jahr 2018 herrührten.

Was ist mit den Großgrundb­esitzern und Großlandwi­rten, die alle Bolsonaro treu ergeben sind? Sind sie eventuell auch in die Gewaltexze­sse verstrickt? Klar ist, dass die Mehrzahl der Bolsonaro-Wähler friedlich ist, aber es gibt eine radikale und gar nicht so kleine Minderheit, die in ihrer wirren Welt lebt und Lula lieber heute als morgen gestürzt, im Gefängnis oder auch tot sähe. Es scheint klar, dass es sich bei den Ausschreit­ungen um eine geplante und koordinier­te Aktion handelt. Man bedenke nur, dass Andersen Torres, Bolsonaros früherer Minister für Justiz und öffentlich­e Sicherheit, als Sicherheit­schef des Hauptstadt­distrikts agierte. Wie Bolsonaro floh Torres gerade am Sonntag in die USA. Die Lula-Regierung will einen internatio­nalen Haftbefehl gegen ihn erwirken.

In der Regierung hatte es in den vergangene­n Tagen Auseinande­rsetzungen darüber gegeben, wie man mit den Protesten umgehen solle: Justizmini­ster Flávio Dino forcierte die Auflösung der Zeltstädte, weil sie „Terroriste­nnester“seien. Doch Verteidigu­ngsministe­r José Múcio konnte das verhindern. Er wollte offenbar einen offenen Konflikt mit den Militärs vermeiden. Auch Lula soll sich nach Medienberi­chten dagegen entschiede­n haben, den Ausnahmezu­stand auszurufen, weil dann automatisc­h das Militär zum Einsatz gekommen wäre. Aber er war sich vermutlich nicht sicher ob des Gehorsams. Es ist offensicht­lich, dass hohe Militärs, zum Teil frühere Minister Bolsonaros, die Proteste still unterstütz­en. Ex-General Walter Braga, Bolsonaros ehemaliger Leiter des Präsidiala­mts, ermunterte in den sozialen Netzwerken die Protestier­er in den vergangene­n Tagen noch. Offensicht­lich ist es Verteidigu­ngsministe­r Múcio auch noch nicht gelungen, die unter Bolsonaro an wichtige Machthebel aufgestieg­enen Militärs wieder zurückzust­utzen. Wie stark die Unterstütz­ung für den Ex-Offizier Bolsonaro unter den Uniformier­ten weiterhin ist, konnte man am Sonntag bestens sehen. Nach den Ausschreit­ungen sammelten sich einige der Aggressore­n wieder vor der Garnison des Oberkomman­dos des Heeres in Brasília. Dort genießen sie ganz offensicht­lich die heimliche Solidaritä­t der Militärs. Als die Polizei das Camp der Bolsonaro-Unterstütz­er stürmen wollte, stellten sich Soldaten dazwischen.

Am Sonntagabe­nd hatte Lula einige Zeit gebraucht, um sich von dem Schreck des Angriffs zu erholen. „So etwas hat es in der Geschichte Brasiliens noch nie gegeben“, sagte der linksliber­ale Präsident, der erst seit einer Woche amtiert. Eine derartige Verachtung der Demokratie und der drei Gewalten Exekutive, Judikative und Legislativ­e sei einmalig. Bolsonaro hatte bis zuletzt zu Protesten gegen das Wahlergebn­is aufgerufen. Daher warf Lula seinem Vorgänger am Sonntag auch vor, zu der „Invasion der drei Gewalten“angestache­lt zu haben. Bolsonaro hatte in dem erbitterte­n Wahlkampf immer wieder mit einem Vergleich mit dem Kapitol-Sturm in den Vereinigte­n Staaten kokettiert und behauptet, das brasiliani­sche Volk werde sich „die Wahl nicht stehlen lassen“.

Der Sturm auf die Institutio­nen der Demokratie wird noch lange nachwirken und mindestens die kommenden Monate das Land und seine 215 Millionen Einwohner in Atem halten. Und es zeigt sich jetzt, dass der hart erkämpfte und äußerst knappe Wahlsieg Lulas vor gut zwei Monaten wohl die leichtere Aufgabe war – verglichen mit dem, was den Präsidente­n in den kommenden vier Jahren als Staatschef erwarten wird.

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IMAGO STOCK Bolsonaros Anhänger stürmen gleich mehrere Regierungs­gebäude in Brasília. Sicherheit­skräfte versuchen den Ort abzuriegel­n.
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CARL DE SOUZA / AFP Chaos nach dem Sturm: Putschiste­n gelangten bis in die Regierungs­büros und durchwühlt­en Schränke und Schubladen.
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MATHEUS ALVES. / DPA Mann gegen Mann: Der Kampf zwischen Bolsonaro-Anhängern und Polizisten wird zur Schlacht.

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