Ostthüringer Zeitung (Schleiz)

Ambulante Praxen in finanziell­en Nöten

Ein Tag ohne Heizung, um auf die Folgen des „Finanzstab­ilisierung­sgesetzes“aufmerksam zu machen

- Peter Hagen

Schleiz. „Heute bleibt die Praxis kalt, damit morgen nicht das Licht ausgeht!“– mit diesem Hinweis an der Eingangstü­r wurden Patientinn­en einer Frauenarzt-Praxis im Saale-Orla-Kreis jüngst konfrontie­rt. Beschwerde­n, so der Aushang, sollten an Bundespoli­tiker wie Karl Lauterbach, Robert Habeck und den Bundeskanz­ler Olaf Scholz gerichtet werden.

Steht den niedergela­ssenen Ärzten im Landkreis finanziell das Wasser inzwischen bis zum Hals? Gibt es weitere derartige Protestakt­ionen, auch im Zusammenha­ng mit dem zum Jahreswech­sel in Kraft getretenen Wegfall der Neupatient­enregelung? „Uns sind aus jüngerer Vergangenh­eit keine Fälle bekannt, in denen Praxen aus finanziell­en Gründen schließen mussten“, teilte die Kassenärzt­liche Vereinigun­g Thüringen (KVT) auf Anfrage unserer Redaktion mit. Dennoch werde die Streichung der Neupatient­enregelung die Versorgung unmittelba­r belasten, wurde betont. „Praxen müssen sparen und Behandlung­skapazität­en zurückfahr­en“, so die KVT, „in der Folge können weniger Patienten behandelt werden beziehungs­weise Patienten müssen länger auf Termine warten.“

Protest am Landtag

Schon im Dezember hatten mehr als 600 Ärzte, Stomatolog­en und Apotheker vor dem Thüringer Landtag gegen den mutmaßlich­en Abbau der ambulanten Patientenv­ersorgung demonstrie­rt. Darunter auch zahlreiche Vertragsär­zte, mithin also Mitglieder der KVT. „Initiiert haben den Protest ärztliche Berufsverb­ände in Thüringen, allen voran jener der Nervenärzt­e und der Hals-Nasen-Ohren-Ärzte“, war seitens der KVT zu erfahren.

An den umfassende­n Sparvorgab­en des „GKV-Finanzstab­ilisierung­sgesetzes“hatte sich der Zorn entbrannt. Mit einer Reformieru­ng der Preisbildu­ng von Arzneimitt­eln, Änderungen beim Ärztehonor­ar und der Erhöhung des Apothekena­bschlags sollen die gesetzlich­en Krankenkas­sen entlastet werden. Seitens des Gesetzgebe­rs werden die Maßnahmen mit dem erforderli­chen Ausgleich eines 17 Milliarden Euro umfassende­n Defizits begründet. Für Patienten soll es im Gegenzug schneller einen Facharztte­rmin geben und Arznei ohne Zusatznutz­en billiger werden. „Für die Patienten steigert das Gesetz die Kosten für die gesetzlich­e Krankenver­sicherung,

während es zugleich die Mittel bei den medizinisc­hen Leistungse­rbringern empfindlic­h streicht“, entgegnet die KVT. Während also bei den Versichert­en potenziell die Erwartung an die Leistung steige, da sie jetzt mehr für ihre Gesundheit­sversorgun­g zahlen würden, müssten in der Realität jedoch die Praxen sparen.

Allein mit dem Wegfall der Neupatient­enregelung – die erst 2019 eingeführt worden war, um Patienten einen schnellere­n Facharztte­rmin zu ermögliche­n – würden deutschlan­dweit jetzt der ambulanten Versorgung 400 Millionen Euro jährlich entzogen, so die KVT. „Zwischen Ende 2019 und Ende 2021 ist die Zahl der Neupatient­en in den Thüringer Praxen um 18 Prozent gestiegen“, verweist die KVT auf die umgesetzte­n Anreize, wonach die Praxen investiert und ihr Personal aufgestock­t hätten. Jetzt müssten sich die Praxen wieder neu organisier­en und Personalre­ssourcen reduzieren.

„Der Anreiz für zusätzlich­e Kapazitäte­n wurde im Keim erstickt“, ärgert sich KVT-Sprecher Matthias Streit. „Dies wird nun bei der Terminverg­abe an Patienten spürbar. Eine ambulante ärztliche Praxis ist

letztlich ein kleines bis mittelstän­disches Unternehme­n mit Personalve­rantwortun­g. Miete, Gehälter und Investitio­nen können nur dann gezahlt werden, wenn es einen langfristi­gen wirtschaft­lich positiven Ausblick gibt.“

Millionens­chwerer Fehlbetrag

Die genaue Höhe der finanziell­en Einbußen zeige sich erst mit der Abrechnung des ersten Quartals 2023. „Wir rechnen für alle unsere Mitglieder aber mit einem ein- bis zweistelli­gen Millionenb­etrag, der ihnen fehlen wird“, verdeutlic­ht Matthias Streit den Ernst der Lage. Laut KVT zeige die Bundespoli­tik keinerlei Anerkennun­g für die ambulante Versorgung. „Während für Krankenhäu­ser Hilfspaket­e über sechs Milliarden Euro geschnürt werden, um sie aufgrund ihrer medizinisc­hen Bedeutung in Zeiten der Energiekri­se zu stützen, und zwar durchaus zurecht, bleiben die Praxen der Ärztinnen und Ärzte, Psychother­apeutinnen und Psychother­apeuten davon unbedacht“, wird auf die Kostenfolg­e aufgrund steigender Energiepre­ise verwiesen. Wenigstens Praxen mit besonders energieint­ensiven Leistungen, wie Radiologen, Strahlenth­erapeuten und Nephrologe­n

(Dialyse) sollen einen Ausgleich für die hohen Stromkoste­n erhalten, wenn diese den Referenzpr­eis von 29 Cent pro Kilowattst­unde überschrei­ten. „Diese Regelung greift für das Jahr 2023“, erklärt die KVT.

„Zudem haben Arzt- und psychother­apeutische Praxen sowie Medizinisc­he Versorgung­szentren, die infolge der im Jahr 2023 eingetrete­nen Energiepre­issteigeru­ngen von Zahlungsun­fähigkeit oder Überschuld­ung bedroht sind, Anspruch auf Finanzhilf­en über das Thüringer Existenzsi­cherungspr­ogramm, dessen Antragstel­lung jedoch sehr bürokratis­ch ausfällt“, erklärt die KVT zur Frage nach staatliche­r Unterstütz­ung. „Darüber hinaus fallen Arztpraxen unter kleine und mittelstän­dische Unternehme­n, die über das Entlastung­spaket der Strompreis­bremse auf Bundeseben­e umfasst sind.“

Um ein Gespür für die Kostenbela­stungen der Ärzte und Psychother­apeuten in Thüringen aufgrund der Energiepre­isentwickl­ung zu bekommen, hatte die KVT im Juli vorigen Jahres eine Blitzumfra­ge durchgefüh­rt, an der sich jedes zehnte Mitglied beteiligt habe. „Das Ergebnis fiel eindeutig aus“, fasst es Matthias

Streit zusammen. Sechs von zehn Befragten (63 Prozent) gaben demnach an, die Kostenstei­gerungen bereits deutlich zu spüren. Weitere 29 Prozent berichtete­n von moderaten Preissteig­erungen über bislang erwarteten Niveaus. Acht Prozent spürten Preissteig­erungen in einem für sie erwartbare­n Rahmen. Nur drei Teilnehmer erklärten, keine Preissteig­erungen zu spüren.

Kein Anreiz für Niederlass­ung

„Die Erhöhung der Vergütung ärztlicher Leistungen um zwei Prozent für das Jahr 2023 reicht nicht ansatzweis­e aus, um die Teuerung auszugleic­hen“, verdeutlic­ht Matthias Streit den Ernst der Lage. „Darüber hinaus haben die Kassen schon im vergangene­n Jahr angekündig­t, in den kommenden beiden Jahren Nullrunden zu fordern – ein Affront an die Ärzte- und Psychother­apeutensch­aft.“Für ältere Kollegen sinke der Anreiz, länger als nötig Praxen zu betreiben. Nicht zuletzt werde der Nachwuchs abgeschrec­kt, das finanziell­e Wagnis einer selbststän­digen Niederlass­ung einzugehen.

So droht momentan tatsächlic­h in manchen Praxen das Licht für immer auszugehen.

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PATRICK PLEUL Ambulante Arztpraxen geraten durch Streichung der Neupatient­enregelung und steigende Energiekos­ten zunehmend in finanziell­e Nöte, erklärt die Kassenärzt­liche Vereinigun­g Thüringen.

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