Ostthüringer Zeitung (Schleiz)
Ambulante Praxen in finanziellen Nöten
Ein Tag ohne Heizung, um auf die Folgen des „Finanzstabilisierungsgesetzes“aufmerksam zu machen
Schleiz. „Heute bleibt die Praxis kalt, damit morgen nicht das Licht ausgeht!“– mit diesem Hinweis an der Eingangstür wurden Patientinnen einer Frauenarzt-Praxis im Saale-Orla-Kreis jüngst konfrontiert. Beschwerden, so der Aushang, sollten an Bundespolitiker wie Karl Lauterbach, Robert Habeck und den Bundeskanzler Olaf Scholz gerichtet werden.
Steht den niedergelassenen Ärzten im Landkreis finanziell das Wasser inzwischen bis zum Hals? Gibt es weitere derartige Protestaktionen, auch im Zusammenhang mit dem zum Jahreswechsel in Kraft getretenen Wegfall der Neupatientenregelung? „Uns sind aus jüngerer Vergangenheit keine Fälle bekannt, in denen Praxen aus finanziellen Gründen schließen mussten“, teilte die Kassenärztliche Vereinigung Thüringen (KVT) auf Anfrage unserer Redaktion mit. Dennoch werde die Streichung der Neupatientenregelung die Versorgung unmittelbar belasten, wurde betont. „Praxen müssen sparen und Behandlungskapazitäten zurückfahren“, so die KVT, „in der Folge können weniger Patienten behandelt werden beziehungsweise Patienten müssen länger auf Termine warten.“
Protest am Landtag
Schon im Dezember hatten mehr als 600 Ärzte, Stomatologen und Apotheker vor dem Thüringer Landtag gegen den mutmaßlichen Abbau der ambulanten Patientenversorgung demonstriert. Darunter auch zahlreiche Vertragsärzte, mithin also Mitglieder der KVT. „Initiiert haben den Protest ärztliche Berufsverbände in Thüringen, allen voran jener der Nervenärzte und der Hals-Nasen-Ohren-Ärzte“, war seitens der KVT zu erfahren.
An den umfassenden Sparvorgaben des „GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes“hatte sich der Zorn entbrannt. Mit einer Reformierung der Preisbildung von Arzneimitteln, Änderungen beim Ärztehonorar und der Erhöhung des Apothekenabschlags sollen die gesetzlichen Krankenkassen entlastet werden. Seitens des Gesetzgebers werden die Maßnahmen mit dem erforderlichen Ausgleich eines 17 Milliarden Euro umfassenden Defizits begründet. Für Patienten soll es im Gegenzug schneller einen Facharzttermin geben und Arznei ohne Zusatznutzen billiger werden. „Für die Patienten steigert das Gesetz die Kosten für die gesetzliche Krankenversicherung,
während es zugleich die Mittel bei den medizinischen Leistungserbringern empfindlich streicht“, entgegnet die KVT. Während also bei den Versicherten potenziell die Erwartung an die Leistung steige, da sie jetzt mehr für ihre Gesundheitsversorgung zahlen würden, müssten in der Realität jedoch die Praxen sparen.
Allein mit dem Wegfall der Neupatientenregelung – die erst 2019 eingeführt worden war, um Patienten einen schnelleren Facharzttermin zu ermöglichen – würden deutschlandweit jetzt der ambulanten Versorgung 400 Millionen Euro jährlich entzogen, so die KVT. „Zwischen Ende 2019 und Ende 2021 ist die Zahl der Neupatienten in den Thüringer Praxen um 18 Prozent gestiegen“, verweist die KVT auf die umgesetzten Anreize, wonach die Praxen investiert und ihr Personal aufgestockt hätten. Jetzt müssten sich die Praxen wieder neu organisieren und Personalressourcen reduzieren.
„Der Anreiz für zusätzliche Kapazitäten wurde im Keim erstickt“, ärgert sich KVT-Sprecher Matthias Streit. „Dies wird nun bei der Terminvergabe an Patienten spürbar. Eine ambulante ärztliche Praxis ist
letztlich ein kleines bis mittelständisches Unternehmen mit Personalverantwortung. Miete, Gehälter und Investitionen können nur dann gezahlt werden, wenn es einen langfristigen wirtschaftlich positiven Ausblick gibt.“
Millionenschwerer Fehlbetrag
Die genaue Höhe der finanziellen Einbußen zeige sich erst mit der Abrechnung des ersten Quartals 2023. „Wir rechnen für alle unsere Mitglieder aber mit einem ein- bis zweistelligen Millionenbetrag, der ihnen fehlen wird“, verdeutlicht Matthias Streit den Ernst der Lage. Laut KVT zeige die Bundespolitik keinerlei Anerkennung für die ambulante Versorgung. „Während für Krankenhäuser Hilfspakete über sechs Milliarden Euro geschnürt werden, um sie aufgrund ihrer medizinischen Bedeutung in Zeiten der Energiekrise zu stützen, und zwar durchaus zurecht, bleiben die Praxen der Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten davon unbedacht“, wird auf die Kostenfolge aufgrund steigender Energiepreise verwiesen. Wenigstens Praxen mit besonders energieintensiven Leistungen, wie Radiologen, Strahlentherapeuten und Nephrologen
(Dialyse) sollen einen Ausgleich für die hohen Stromkosten erhalten, wenn diese den Referenzpreis von 29 Cent pro Kilowattstunde überschreiten. „Diese Regelung greift für das Jahr 2023“, erklärt die KVT.
„Zudem haben Arzt- und psychotherapeutische Praxen sowie Medizinische Versorgungszentren, die infolge der im Jahr 2023 eingetretenen Energiepreissteigerungen von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung bedroht sind, Anspruch auf Finanzhilfen über das Thüringer Existenzsicherungsprogramm, dessen Antragstellung jedoch sehr bürokratisch ausfällt“, erklärt die KVT zur Frage nach staatlicher Unterstützung. „Darüber hinaus fallen Arztpraxen unter kleine und mittelständische Unternehmen, die über das Entlastungspaket der Strompreisbremse auf Bundesebene umfasst sind.“
Um ein Gespür für die Kostenbelastungen der Ärzte und Psychotherapeuten in Thüringen aufgrund der Energiepreisentwicklung zu bekommen, hatte die KVT im Juli vorigen Jahres eine Blitzumfrage durchgeführt, an der sich jedes zehnte Mitglied beteiligt habe. „Das Ergebnis fiel eindeutig aus“, fasst es Matthias
Streit zusammen. Sechs von zehn Befragten (63 Prozent) gaben demnach an, die Kostensteigerungen bereits deutlich zu spüren. Weitere 29 Prozent berichteten von moderaten Preissteigerungen über bislang erwarteten Niveaus. Acht Prozent spürten Preissteigerungen in einem für sie erwartbaren Rahmen. Nur drei Teilnehmer erklärten, keine Preissteigerungen zu spüren.
Kein Anreiz für Niederlassung
„Die Erhöhung der Vergütung ärztlicher Leistungen um zwei Prozent für das Jahr 2023 reicht nicht ansatzweise aus, um die Teuerung auszugleichen“, verdeutlicht Matthias Streit den Ernst der Lage. „Darüber hinaus haben die Kassen schon im vergangenen Jahr angekündigt, in den kommenden beiden Jahren Nullrunden zu fordern – ein Affront an die Ärzte- und Psychotherapeutenschaft.“Für ältere Kollegen sinke der Anreiz, länger als nötig Praxen zu betreiben. Nicht zuletzt werde der Nachwuchs abgeschreckt, das finanzielle Wagnis einer selbstständigen Niederlassung einzugehen.
So droht momentan tatsächlich in manchen Praxen das Licht für immer auszugehen.